Erzittre vor dem ersten Schritte: Mit ihm sind schon die andern Tritte Zu einem nahen Fall gethan!
Wann wird doch der Mensch lernen, daß die Sklaverei einer einzigen Sünde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine bestmöglichst entschuldigte Leidenschaft lächelt dich an, und scheinet einzeln vor dir zu stehen; aber hinter ihr bücken sich ihre Schwe- stern, und schleichen sich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar- ten, was diese gesamte Brut aus dir machen will.
Wäle welches Laster du wilst: es ist eine Kette der Sün- den. Es kostet Geld, oder Beleidigung des Nächsten: Stoff genug zu deinem Unglück! Zehn Menschen beleidiget, sind hun- dert gewisse Feinde. Das Geld aber (zum Glück haben es sehr wenige im Ueberfluß) kettet eine Sünde an die andre. Bald wird dir deine Lieblingssünde Geld abfodern, und dann bist du verloren; denn ihre Foderung steigt, bis du sie ehrlich nicht mehr erschwingen kanst. Nun wirst du also ein Wagehals, ein Schmeichler, Betrüger, niederträchtiger Bettler, und nach zwanzig besiegten Versuchungen, bei recht günstiger Gelegenheit, auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier stehen bleibest. Nun sehe ich dich vom steilen Berge in völligem Laufe herab. Man entdeckt deinen Betrug: du glaubst deine Ehre retten zu müssen, und begehest einen Meineid. Man ertappt dich auf ei- nem Diebstal: du wilst dich sicher setzen und wirst ein Mörder. Es wird kein Verbrecher zum Tode geführt, der nicht unvermerkt tiefer fiel, als er fallen wolte.
Der
Der 10te Junius.
Erzittre vor dem erſten Schritte: Mit ihm ſind ſchon die andern Tritte Zu einem nahen Fall gethan!
Wann wird doch der Menſch lernen, daß die Sklaverei einer einzigen Suͤnde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine beſtmoͤglichſt entſchuldigte Leidenſchaft laͤchelt dich an, und ſcheinet einzeln vor dir zu ſtehen; aber hinter ihr buͤcken ſich ihre Schwe- ſtern, und ſchleichen ſich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar- ten, was dieſe geſamte Brut aus dir machen will.
Waͤle welches Laſter du wilſt: es iſt eine Kette der Suͤn- den. Es koſtet Geld, oder Beleidigung des Naͤchſten: Stoff genug zu deinem Ungluͤck! Zehn Menſchen beleidiget, ſind hun- dert gewiſſe Feinde. Das Geld aber (zum Gluͤck haben es ſehr wenige im Ueberfluß) kettet eine Suͤnde an die andre. Bald wird dir deine Lieblingsſuͤnde Geld abfodern, und dann biſt du verloren; denn ihre Foderung ſteigt, bis du ſie ehrlich nicht mehr erſchwingen kanſt. Nun wirſt du alſo ein Wagehals, ein Schmeichler, Betruͤger, niedertraͤchtiger Bettler, und nach zwanzig beſiegten Verſuchungen, bei recht guͤnſtiger Gelegenheit, auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier ſtehen bleibeſt. Nun ſehe ich dich vom ſteilen Berge in voͤlligem Laufe herab. Man entdeckt deinen Betrug: du glaubſt deine Ehre retten zu muͤſſen, und begeheſt einen Meineid. Man ertappt dich auf ei- nem Diebſtal: du wilſt dich ſicher ſetzen und wirſt ein Moͤrder. Es wird kein Verbrecher zum Tode gefuͤhrt, der nicht unvermerkt tiefer fiel, als er fallen wolte.
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[335[365]/0372]
Der 10te Junius.
Erzittre vor dem erſten Schritte:
Mit ihm ſind ſchon die andern Tritte
Zu einem nahen Fall gethan!
Wann wird doch der Menſch lernen, daß die Sklaverei einer
einzigen Suͤnde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine
beſtmoͤglichſt entſchuldigte Leidenſchaft laͤchelt dich an, und ſcheinet
einzeln vor dir zu ſtehen; aber hinter ihr buͤcken ſich ihre Schwe-
ſtern, und ſchleichen ſich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar-
ten, was dieſe geſamte Brut aus dir machen will.
Waͤle welches Laſter du wilſt: es iſt eine Kette der Suͤn-
den. Es koſtet Geld, oder Beleidigung des Naͤchſten: Stoff
genug zu deinem Ungluͤck! Zehn Menſchen beleidiget, ſind hun-
dert gewiſſe Feinde. Das Geld aber (zum Gluͤck haben es ſehr
wenige im Ueberfluß) kettet eine Suͤnde an die andre. Bald
wird dir deine Lieblingsſuͤnde Geld abfodern, und dann biſt du
verloren; denn ihre Foderung ſteigt, bis du ſie ehrlich nicht mehr
erſchwingen kanſt. Nun wirſt du alſo ein Wagehals, ein
Schmeichler, Betruͤger, niedertraͤchtiger Bettler, und nach
zwanzig beſiegten Verſuchungen, bei recht guͤnſtiger Gelegenheit,
auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier ſtehen bleibeſt.
Nun ſehe ich dich vom ſteilen Berge in voͤlligem Laufe herab.
Man entdeckt deinen Betrug: du glaubſt deine Ehre retten zu
muͤſſen, und begeheſt einen Meineid. Man ertappt dich auf ei-
nem Diebſtal: du wilſt dich ſicher ſetzen und wirſt ein Moͤrder.
Es wird kein Verbrecher zum Tode gefuͤhrt, der nicht unvermerkt
tiefer fiel, als er fallen wolte.
Der
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 335[365]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/372>, abgerufen am 23.11.2024.
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