Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 10te Junius.
Erzittre vor dem ersten Schritte:
Mit ihm sind schon die andern Tritte
Zu einem nahen Fall gethan!


Wann wird doch der Mensch lernen, daß die Sklaverei einer
einzigen Sünde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine
bestmöglichst entschuldigte Leidenschaft lächelt dich an, und scheinet
einzeln vor dir zu stehen; aber hinter ihr bücken sich ihre Schwe-
stern, und schleichen sich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar-
ten, was diese gesamte Brut aus dir machen will.

Wäle welches Laster du wilst: es ist eine Kette der Sün-
den.
Es kostet Geld, oder Beleidigung des Nächsten: Stoff
genug zu deinem Unglück! Zehn Menschen beleidiget, sind hun-
dert gewisse Feinde. Das Geld aber (zum Glück haben es sehr
wenige im Ueberfluß) kettet eine Sünde an die andre. Bald
wird dir deine Lieblingssünde Geld abfodern, und dann bist du
verloren; denn ihre Foderung steigt, bis du sie ehrlich nicht mehr
erschwingen kanst. Nun wirst du also ein Wagehals, ein
Schmeichler, Betrüger, niederträchtiger Bettler, und nach
zwanzig besiegten Versuchungen, bei recht günstiger Gelegenheit,
auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier stehen bleibest.
Nun sehe ich dich vom steilen Berge in völligem Laufe herab.
Man entdeckt deinen Betrug: du glaubst deine Ehre retten zu
müssen, und begehest einen Meineid. Man ertappt dich auf ei-
nem Diebstal: du wilst dich sicher setzen und wirst ein Mörder.
Es wird kein Verbrecher zum Tode geführt, der nicht unvermerkt
tiefer fiel, als er fallen wolte.

Der


Der 10te Junius.
Erzittre vor dem erſten Schritte:
Mit ihm ſind ſchon die andern Tritte
Zu einem nahen Fall gethan!


Wann wird doch der Menſch lernen, daß die Sklaverei einer
einzigen Suͤnde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine
beſtmoͤglichſt entſchuldigte Leidenſchaft laͤchelt dich an, und ſcheinet
einzeln vor dir zu ſtehen; aber hinter ihr buͤcken ſich ihre Schwe-
ſtern, und ſchleichen ſich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar-
ten, was dieſe geſamte Brut aus dir machen will.

Waͤle welches Laſter du wilſt: es iſt eine Kette der Suͤn-
den.
Es koſtet Geld, oder Beleidigung des Naͤchſten: Stoff
genug zu deinem Ungluͤck! Zehn Menſchen beleidiget, ſind hun-
dert gewiſſe Feinde. Das Geld aber (zum Gluͤck haben es ſehr
wenige im Ueberfluß) kettet eine Suͤnde an die andre. Bald
wird dir deine Lieblingsſuͤnde Geld abfodern, und dann biſt du
verloren; denn ihre Foderung ſteigt, bis du ſie ehrlich nicht mehr
erſchwingen kanſt. Nun wirſt du alſo ein Wagehals, ein
Schmeichler, Betruͤger, niedertraͤchtiger Bettler, und nach
zwanzig beſiegten Verſuchungen, bei recht guͤnſtiger Gelegenheit,
auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier ſtehen bleibeſt.
Nun ſehe ich dich vom ſteilen Berge in voͤlligem Laufe herab.
Man entdeckt deinen Betrug: du glaubſt deine Ehre retten zu
muͤſſen, und begeheſt einen Meineid. Man ertappt dich auf ei-
nem Diebſtal: du wilſt dich ſicher ſetzen und wirſt ein Moͤrder.
Es wird kein Verbrecher zum Tode gefuͤhrt, der nicht unvermerkt
tiefer fiel, als er fallen wolte.

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0372" n="335[365]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 10<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">E</hi>rzittre vor dem er&#x017F;ten Schritte:</l><lb/>
              <l>Mit ihm &#x017F;ind &#x017F;chon die andern Tritte</l><lb/>
              <l>Zu einem nahen Fall gethan!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>ann wird doch der Men&#x017F;ch lernen, daß die Sklaverei einer<lb/>
einzigen Su&#x0364;nde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine<lb/>
be&#x017F;tmo&#x0364;glich&#x017F;t ent&#x017F;chuldigte Leiden&#x017F;chaft la&#x0364;chelt dich an, und &#x017F;cheinet<lb/>
einzeln vor dir zu &#x017F;tehen; aber hinter ihr bu&#x0364;cken &#x017F;ich ihre Schwe-<lb/>
&#x017F;tern, und &#x017F;chleichen &#x017F;ich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar-<lb/>
ten, was die&#x017F;e ge&#x017F;amte Brut aus dir machen will.</p><lb/>
            <p>Wa&#x0364;le welches La&#x017F;ter du wil&#x017F;t: es i&#x017F;t eine <hi rendition="#fr">Kette der Su&#x0364;n-<lb/>
den.</hi> Es ko&#x017F;tet Geld, oder Beleidigung des Na&#x0364;ch&#x017F;ten: Stoff<lb/>
genug zu deinem Unglu&#x0364;ck! Zehn Men&#x017F;chen beleidiget, &#x017F;ind hun-<lb/>
dert gewi&#x017F;&#x017F;e Feinde. Das Geld aber (zum Glu&#x0364;ck haben es &#x017F;ehr<lb/>
wenige im Ueberfluß) kettet eine Su&#x0364;nde an die andre. Bald<lb/>
wird dir deine Lieblings&#x017F;u&#x0364;nde Geld abfodern, und dann bi&#x017F;t du<lb/>
verloren; denn ihre Foderung &#x017F;teigt, bis du &#x017F;ie ehrlich nicht mehr<lb/>
er&#x017F;chwingen kan&#x017F;t. Nun wir&#x017F;t du al&#x017F;o ein Wagehals, ein<lb/>
Schmeichler, Betru&#x0364;ger, niedertra&#x0364;chtiger Bettler, und nach<lb/>
zwanzig be&#x017F;iegten Ver&#x017F;uchungen, bei recht gu&#x0364;n&#x017F;tiger Gelegenheit,<lb/>
auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier &#x017F;tehen bleibe&#x017F;t.<lb/>
Nun &#x017F;ehe ich dich vom &#x017F;teilen Berge in vo&#x0364;lligem Laufe herab.<lb/>
Man entdeckt deinen Betrug: du glaub&#x017F;t deine Ehre retten zu<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und begehe&#x017F;t einen Meineid. Man ertappt dich auf ei-<lb/>
nem Dieb&#x017F;tal: du wil&#x017F;t dich &#x017F;icher &#x017F;etzen und wir&#x017F;t ein Mo&#x0364;rder.<lb/>
Es wird kein Verbrecher zum Tode gefu&#x0364;hrt, der nicht unvermerkt<lb/>
tiefer fiel, als er fallen wolte.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[335[365]/0372] Der 10te Junius. Erzittre vor dem erſten Schritte: Mit ihm ſind ſchon die andern Tritte Zu einem nahen Fall gethan! Wann wird doch der Menſch lernen, daß die Sklaverei einer einzigen Suͤnde alle Freiheit aufhebe! Armer Thor! Eine beſtmoͤglichſt entſchuldigte Leidenſchaft laͤchelt dich an, und ſcheinet einzeln vor dir zu ſtehen; aber hinter ihr buͤcken ſich ihre Schwe- ſtern, und ſchleichen ſich mit ins Herz. Und nun mußt du erwar- ten, was dieſe geſamte Brut aus dir machen will. Waͤle welches Laſter du wilſt: es iſt eine Kette der Suͤn- den. Es koſtet Geld, oder Beleidigung des Naͤchſten: Stoff genug zu deinem Ungluͤck! Zehn Menſchen beleidiget, ſind hun- dert gewiſſe Feinde. Das Geld aber (zum Gluͤck haben es ſehr wenige im Ueberfluß) kettet eine Suͤnde an die andre. Bald wird dir deine Lieblingsſuͤnde Geld abfodern, und dann biſt du verloren; denn ihre Foderung ſteigt, bis du ſie ehrlich nicht mehr erſchwingen kanſt. Nun wirſt du alſo ein Wagehals, ein Schmeichler, Betruͤger, niedertraͤchtiger Bettler, und nach zwanzig beſiegten Verſuchungen, bei recht guͤnſtiger Gelegenheit, auch wol ein Dieb. Denk nicht, daß du hier ſtehen bleibeſt. Nun ſehe ich dich vom ſteilen Berge in voͤlligem Laufe herab. Man entdeckt deinen Betrug: du glaubſt deine Ehre retten zu muͤſſen, und begeheſt einen Meineid. Man ertappt dich auf ei- nem Diebſtal: du wilſt dich ſicher ſetzen und wirſt ein Moͤrder. Es wird kein Verbrecher zum Tode gefuͤhrt, der nicht unvermerkt tiefer fiel, als er fallen wolte. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/372
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 335[365]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/372>, abgerufen am 23.11.2024.