Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Der 8te Junius.
dem wahren Gesichtspunkt zu betrachten. Ehrsucht ist fast das
einzige Laster, welches seine Stärke in den letzten Stunden, bei
einlgen seiner Sklaven behält; ja sogar im Tode selbst Nahrung
für sich suchet. Wüßte aber ein solcher Praler, daß sein Tod
für ehrlos erkläret, oder nicht bemerkt würde: so kröche er wie
andre dem Grabe zu. Für eine Ehrensäule stürzt er sich in den
ofnen Schlund. Ueberhaupt machen alle erhitzte Affekten die
Seele von Einer Seite verrückt. Selbst die weichlichste Wol-
lust peitscht ihre Leibeigenen bisweilen in Gefahren und Tod. Und
wer kan alle Verblendungen der Thoren entziffern! die doch öfters
auch nur brav scheinen, im Grunde aber herzliche Memmen
sind!

Nur noch eines und zwar des gefährlichsten Rausches zu ge-
denken: Jrreligion oder falsche Begriffe von Gott und der mensch-
lichen Seele, Kaltsinn gegen den Himmel, Zweifel an der Zu-
kunft, Verachtung des göttlichen Worts, Einfalt in Glaubens-
sachen, rohe Sitten, Umgang mit Gottlosen, und dummdreiste
Zuversicht auf Gottes Gnade; dis sind die Schlüssel zu dem herz-
haften Tode manches Gottesvergeßnen. Er kan den Tod so sehr
nicht scheuen, weil er ihn nicht als den Sold der Sünden erken-
net. Wüßte er gewiß, daß ihm ein unbestechlicher Richter, eine
Ewigkeit und Hölle bevorstände: er würde zittern wie ein ge-
jagtes Reh, und es nicht für klein halten, sterbend herzlich zu
beten.

Nein! ich will dem Tode nicht entgegen taumeln; er ent-
scheidet nach diesem Probeleben mein ganzes wahres Daseyn.
Selbst mein Erlöser schwitzte für Todesangst, und wünschte sich
die furchtbare Stunde vorüber. Er sah nicht blos auf den Tod,
sondern auch auf die Folgen desselben. Er sprach vom Paradiese,
betete, dürstete, empfand den Trost, daß alles vollbracht sey,
und kindlich empfal er seinen Geist in die Hände des Vaters. So
und nicht herzhafter sey auch mein Ende, o Jesu!

Der

Der 8te Junius.
dem wahren Geſichtspunkt zu betrachten. Ehrſucht iſt faſt das
einzige Laſter, welches ſeine Staͤrke in den letzten Stunden, bei
einlgen ſeiner Sklaven behaͤlt; ja ſogar im Tode ſelbſt Nahrung
fuͤr ſich ſuchet. Wuͤßte aber ein ſolcher Praler, daß ſein Tod
fuͤr ehrlos erklaͤret, oder nicht bemerkt wuͤrde: ſo kroͤche er wie
andre dem Grabe zu. Fuͤr eine Ehrenſaͤule ſtuͤrzt er ſich in den
ofnen Schlund. Ueberhaupt machen alle erhitzte Affekten die
Seele von Einer Seite verruͤckt. Selbſt die weichlichſte Wol-
luſt peitſcht ihre Leibeigenen bisweilen in Gefahren und Tod. Und
wer kan alle Verblendungen der Thoren entziffern! die doch oͤfters
auch nur brav ſcheinen, im Grunde aber herzliche Memmen
ſind!

Nur noch eines und zwar des gefaͤhrlichſten Rauſches zu ge-
denken: Jrreligion oder falſche Begriffe von Gott und der menſch-
lichen Seele, Kaltſinn gegen den Himmel, Zweifel an der Zu-
kunft, Verachtung des goͤttlichen Worts, Einfalt in Glaubens-
ſachen, rohe Sitten, Umgang mit Gottloſen, und dummdreiſte
Zuverſicht auf Gottes Gnade; dis ſind die Schluͤſſel zu dem herz-
haften Tode manches Gottesvergeßnen. Er kan den Tod ſo ſehr
nicht ſcheuen, weil er ihn nicht als den Sold der Suͤnden erken-
net. Wuͤßte er gewiß, daß ihm ein unbeſtechlicher Richter, eine
Ewigkeit und Hoͤlle bevorſtaͤnde: er wuͤrde zittern wie ein ge-
jagtes Reh, und es nicht fuͤr klein halten, ſterbend herzlich zu
beten.

Nein! ich will dem Tode nicht entgegen taumeln; er ent-
ſcheidet nach dieſem Probeleben mein ganzes wahres Daſeyn.
Selbſt mein Erloͤſer ſchwitzte fuͤr Todesangſt, und wuͤnſchte ſich
die furchtbare Stunde voruͤber. Er ſah nicht blos auf den Tod,
ſondern auch auf die Folgen deſſelben. Er ſprach vom Paradieſe,
betete, duͤrſtete, empfand den Troſt, daß alles vollbracht ſey,
und kindlich empfal er ſeinen Geiſt in die Haͤnde des Vaters. So
und nicht herzhafter ſey auch mein Ende, o Jeſu!

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0369" n="332[362]"/><fw place="top" type="header">Der 8<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/>
dem wahren Ge&#x017F;ichtspunkt zu betrachten. Ehr&#x017F;ucht i&#x017F;t fa&#x017F;t das<lb/>
einzige La&#x017F;ter, welches &#x017F;eine Sta&#x0364;rke in den letzten Stunden, bei<lb/>
einlgen &#x017F;einer Sklaven beha&#x0364;lt; ja &#x017F;ogar im Tode &#x017F;elb&#x017F;t Nahrung<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;uchet. Wu&#x0364;ßte aber ein &#x017F;olcher Praler, daß &#x017F;ein Tod<lb/>
fu&#x0364;r ehrlos erkla&#x0364;ret, oder nicht bemerkt wu&#x0364;rde: &#x017F;o kro&#x0364;che er wie<lb/>
andre dem Grabe zu. Fu&#x0364;r eine Ehren&#x017F;a&#x0364;ule &#x017F;tu&#x0364;rzt er &#x017F;ich in den<lb/>
ofnen Schlund. Ueberhaupt machen alle erhitzte Affekten die<lb/>
Seele von Einer Seite verru&#x0364;ckt. Selb&#x017F;t die weichlich&#x017F;te Wol-<lb/>
lu&#x017F;t peit&#x017F;cht ihre Leibeigenen bisweilen in Gefahren und Tod. Und<lb/>
wer kan alle Verblendungen der Thoren entziffern! die doch o&#x0364;fters<lb/>
auch nur brav &#x017F;cheinen, im Grunde aber herzliche Memmen<lb/>
&#x017F;ind!</p><lb/>
            <p>Nur noch eines und zwar des gefa&#x0364;hrlich&#x017F;ten Rau&#x017F;ches zu ge-<lb/>
denken: Jrreligion oder fal&#x017F;che Begriffe von Gott und der men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Seele, Kalt&#x017F;inn gegen den Himmel, Zweifel an der Zu-<lb/>
kunft, Verachtung des go&#x0364;ttlichen Worts, Einfalt in Glaubens-<lb/>
&#x017F;achen, rohe Sitten, Umgang mit Gottlo&#x017F;en, und dummdrei&#x017F;te<lb/>
Zuver&#x017F;icht auf Gottes Gnade; dis &#x017F;ind die Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el zu dem herz-<lb/>
haften Tode manches Gottesvergeßnen. Er kan den Tod &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
nicht &#x017F;cheuen, weil er ihn nicht als den Sold der Su&#x0364;nden erken-<lb/>
net. Wu&#x0364;ßte er gewiß, daß ihm ein unbe&#x017F;techlicher Richter, eine<lb/>
Ewigkeit und Ho&#x0364;lle bevor&#x017F;ta&#x0364;nde: er wu&#x0364;rde zittern wie ein ge-<lb/>
jagtes Reh, und es nicht fu&#x0364;r klein halten, &#x017F;terbend herzlich zu<lb/>
beten.</p><lb/>
            <p>Nein! ich will dem Tode nicht entgegen taumeln; er ent-<lb/>
&#x017F;cheidet nach die&#x017F;em Probeleben mein ganzes wahres Da&#x017F;eyn.<lb/>
Selb&#x017F;t mein Erlo&#x0364;&#x017F;er &#x017F;chwitzte fu&#x0364;r Todesang&#x017F;t, und wu&#x0364;n&#x017F;chte &#x017F;ich<lb/>
die furchtbare Stunde voru&#x0364;ber. Er &#x017F;ah nicht blos auf den Tod,<lb/>
&#x017F;ondern auch auf die Folgen de&#x017F;&#x017F;elben. Er &#x017F;prach vom Paradie&#x017F;e,<lb/>
betete, du&#x0364;r&#x017F;tete, empfand den Tro&#x017F;t, daß alles vollbracht &#x017F;ey,<lb/>
und kindlich empfal er &#x017F;einen Gei&#x017F;t in die Ha&#x0364;nde des Vaters. So<lb/>
und nicht herzhafter &#x017F;ey auch mein Ende, o Je&#x017F;u!</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332[362]/0369] Der 8te Junius. dem wahren Geſichtspunkt zu betrachten. Ehrſucht iſt faſt das einzige Laſter, welches ſeine Staͤrke in den letzten Stunden, bei einlgen ſeiner Sklaven behaͤlt; ja ſogar im Tode ſelbſt Nahrung fuͤr ſich ſuchet. Wuͤßte aber ein ſolcher Praler, daß ſein Tod fuͤr ehrlos erklaͤret, oder nicht bemerkt wuͤrde: ſo kroͤche er wie andre dem Grabe zu. Fuͤr eine Ehrenſaͤule ſtuͤrzt er ſich in den ofnen Schlund. Ueberhaupt machen alle erhitzte Affekten die Seele von Einer Seite verruͤckt. Selbſt die weichlichſte Wol- luſt peitſcht ihre Leibeigenen bisweilen in Gefahren und Tod. Und wer kan alle Verblendungen der Thoren entziffern! die doch oͤfters auch nur brav ſcheinen, im Grunde aber herzliche Memmen ſind! Nur noch eines und zwar des gefaͤhrlichſten Rauſches zu ge- denken: Jrreligion oder falſche Begriffe von Gott und der menſch- lichen Seele, Kaltſinn gegen den Himmel, Zweifel an der Zu- kunft, Verachtung des goͤttlichen Worts, Einfalt in Glaubens- ſachen, rohe Sitten, Umgang mit Gottloſen, und dummdreiſte Zuverſicht auf Gottes Gnade; dis ſind die Schluͤſſel zu dem herz- haften Tode manches Gottesvergeßnen. Er kan den Tod ſo ſehr nicht ſcheuen, weil er ihn nicht als den Sold der Suͤnden erken- net. Wuͤßte er gewiß, daß ihm ein unbeſtechlicher Richter, eine Ewigkeit und Hoͤlle bevorſtaͤnde: er wuͤrde zittern wie ein ge- jagtes Reh, und es nicht fuͤr klein halten, ſterbend herzlich zu beten. Nein! ich will dem Tode nicht entgegen taumeln; er ent- ſcheidet nach dieſem Probeleben mein ganzes wahres Daſeyn. Selbſt mein Erloͤſer ſchwitzte fuͤr Todesangſt, und wuͤnſchte ſich die furchtbare Stunde voruͤber. Er ſah nicht blos auf den Tod, ſondern auch auf die Folgen deſſelben. Er ſprach vom Paradieſe, betete, duͤrſtete, empfand den Troſt, daß alles vollbracht ſey, und kindlich empfal er ſeinen Geiſt in die Haͤnde des Vaters. So und nicht herzhafter ſey auch mein Ende, o Jeſu! Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/369
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 332[362]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/369>, abgerufen am 25.11.2024.