Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 5te Junius. demnach ein Mensch, der Feinde und Verfolger hat, tugend-hafter, als ein Mächtiger und Reicher es seyn kan, der nichts als Freunde und Schmeichler kennet. Mancher, der im Schoosse seiner Familie einer trägen Ruhe genießt, und sich für einen äch- ten Christen hält, würde über sein unbearbeitetes Herz erschre- cken, wenn er unter Neidern und Widersprechern leben solte. Zwar will ich mich hüten, muthwillig mir Feinde zu ma- O Vater! sey du nur mein Freund, so kan ich gelassen ein- Der
Der 5te Junius. demnach ein Menſch, der Feinde und Verfolger hat, tugend-hafter, als ein Maͤchtiger und Reicher es ſeyn kan, der nichts als Freunde und Schmeichler kennet. Mancher, der im Schooſſe ſeiner Familie einer traͤgen Ruhe genießt, und ſich fuͤr einen aͤch- ten Chriſten haͤlt, wuͤrde uͤber ſein unbearbeitetes Herz erſchre- cken, wenn er unter Neidern und Widerſprechern leben ſolte. Zwar will ich mich huͤten, muthwillig mir Feinde zu ma- O Vater! ſey du nur mein Freund, ſo kan ich gelaſſen ein- Der
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Der 5te Junius.
demnach ein Menſch, der Feinde und Verfolger hat, tugend-
hafter, als ein Maͤchtiger und Reicher es ſeyn kan, der nichts als
Freunde und Schmeichler kennet. Mancher, der im Schooſſe
ſeiner Familie einer traͤgen Ruhe genießt, und ſich fuͤr einen aͤch-
ten Chriſten haͤlt, wuͤrde uͤber ſein unbearbeitetes Herz erſchre-
cken, wenn er unter Neidern und Widerſprechern leben ſolte.
Zwar will ich mich huͤten, muthwillig mir Feinde zu ma-
chen; denn der Sturm moͤchte zu ſtark werden und mich ſcheitern
laſſen. Jch will vielmehr beten: Herr! fuͤhr mich nicht in Ver-
ſuchung; denn ich moͤgte darin umkommen. Sind mir aber
ohne mein Verſchulden dennoch Feinde beſchieden: ſo will ich ſie
annehmen, als eine bittre Arznei. Jhre Verlaͤunndung, Raͤnke
und Uebervortheilungen ſollen mich naͤher zum Himmel draͤngen.
Auf der Welt und in der Hoͤlle muß ich, als ein Nachfolger
Jeſu, Feinde haben: nur in dem Himmel nicht.
O Vater! ſey du nur mein Freund, ſo kan ich gelaſſen ein-
herwandeln, wenn gleich Stirnen uͤber mich gerunzelt werden,
und Zaͤhne knirſchen. Aber wie uͤberirdiſch iſt doch die Tugend,
ſich keine Feinde zu erwecken, und die man dennoch hat, zu ſeg-
nen! Gib mir, freundlicher Jeſu! deine Geduld und Sanftmut,
ſonſt kochet mein Blut zu ſchnell! Vertilg in mir das niedertraͤch-
tige Laſter der Rache! Sie iſt ja dein, und ich maſſe mich goͤttli-
cher Vorrechte an, wenn ich mich ſelber raͤchen will. Segne mich,
meine Freunde und auch meine Feinde: du kenneſt ſie beſſer als
ich. O! welch ein Ruhm, wenn ich einen mit Sanftmut uͤber-
wundnen Feind, als ein Siegeszeichen deiner Religion vor dir
aufſtellen koͤnte! Ja, durch deine Kraft wolte ich jetzt meinen
aͤltſten Feind bittend umarmen. Aber er lebet wol nicht mehr!
Nun denn meinen neueſten Feind! — wie pochet das Herz!
Verſoͤhner der Menſchen! hilf den Tumult in meinem ſtorrigen
Gemuͤthe ſtillen!
Der
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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