Wir werden an jenem Gerichtstage über unsre Mitgefährten er- staunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Mensch wol jemals verächtlich seyn, welcher den Himmel erben kan? Aeus- serliche Achtung müssen wir der hohen Geburt, den grauen Haa- ren, den seidnen Kleidern und andern irdischen Vorzügen zollen; aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Nächsten. Und sie verdienet sie um desto mehr, je weniger sie viehisch und irdisch gesinnet ist.
Jede Nation ehret die Todten, und der schlechtste Leichnam heischet eine Art von Ehrfurcht. Wunderliches Verfahren! Wir haben eine Achtung für Entseelten, die wir bei ihrem Leben nicht für sie hatten, und schätzen den verwesenden Staub so hoch, daß wir uns über ihm keine Sünde erlauben! Nun, ihr Armen! so verberget euch denn in eure Schlafkammer. Jm Tode unter- scheidet man euch doch von den Hunden, und ehret euer Grab- mal. Man ehret euch alsdann wie Regenten, d. i. man fürch- tet sich vor euch.
Der Stolz gegen den Nächsten ist eins der abgeschmackte- sten Laster. Er setzt eine kindische Eigenliebe voraus, gründet sich auf Vorurtheil und Unwissenheit, und erreichet seinen Zweck niemals. Wer innig geehrt seyn will, darf es nicht abtrotzen, sondern muß es sich durch Tugend und Verdienste erwerben.
Liebreicher Gott! haben schon Menschen über meine Hoffart zu dir hinaufgeseufzet? -- Ach! mögte ich dir doch ähnlich seyn, mein Erlöser! Du erniedrigtest dich selbst, entsagtest deiner Herr- lichkeit, und wurdest für mich ein Knecht! Wie gnädig ist der Himmel! Er stehet jedem offen, dem alle Vorsäle verschlossen sind. Du nennest, o Jesu! die Armen deine Brüder: mir darf also niemand fremde seyn. Jch will meinen Nächsten um deinetwillen hochschätzen: denn im Himmel stellest du ihn vieleicht neben mich.
Der
Der 3te Junius.
Wir werden an jenem Gerichtstage uͤber unſre Mitgefaͤhrten er- ſtaunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Menſch wol jemals veraͤchtlich ſeyn, welcher den Himmel erben kan? Aeuſ- ſerliche Achtung muͤſſen wir der hohen Geburt, den grauen Haa- ren, den ſeidnen Kleidern und andern irdiſchen Vorzuͤgen zollen; aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Naͤchſten. Und ſie verdienet ſie um deſto mehr, je weniger ſie viehiſch und irdiſch geſinnet iſt.
Jede Nation ehret die Todten, und der ſchlechtſte Leichnam heiſchet eine Art von Ehrfurcht. Wunderliches Verfahren! Wir haben eine Achtung fuͤr Entſeelten, die wir bei ihrem Leben nicht fuͤr ſie hatten, und ſchaͤtzen den verweſenden Staub ſo hoch, daß wir uns uͤber ihm keine Suͤnde erlauben! Nun, ihr Armen! ſo verberget euch denn in eure Schlafkammer. Jm Tode unter- ſcheidet man euch doch von den Hunden, und ehret euer Grab- mal. Man ehret euch alsdann wie Regenten, d. i. man fuͤrch- tet ſich vor euch.
Der Stolz gegen den Naͤchſten iſt eins der abgeſchmackte- ſten Laſter. Er ſetzt eine kindiſche Eigenliebe voraus, gruͤndet ſich auf Vorurtheil und Unwiſſenheit, und erreichet ſeinen Zweck niemals. Wer innig geehrt ſeyn will, darf es nicht abtrotzen, ſondern muß es ſich durch Tugend und Verdienſte erwerben.
Liebreicher Gott! haben ſchon Menſchen uͤber meine Hoffart zu dir hinaufgeſeufzet? — Ach! moͤgte ich dir doch aͤhnlich ſeyn, mein Erloͤſer! Du erniedrigteſt dich ſelbſt, entſagteſt deiner Herr- lichkeit, und wurdeſt fuͤr mich ein Knecht! Wie gnaͤdig iſt der Himmel! Er ſtehet jedem offen, dem alle Vorſaͤle verſchloſſen ſind. Du nenneſt, o Jeſu! die Armen deine Bruͤder: mir darf alſo niemand fremde ſeyn. Jch will meinen Naͤchſten um deinetwillen hochſchaͤtzen: denn im Himmel ſtelleſt du ihn vieleicht neben mich.
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0359"n="322[352]"/><fwplace="top"type="header">Der 3<hirendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/>
Wir werden an jenem Gerichtstage uͤber unſre Mitgefaͤhrten er-<lb/>ſtaunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen<lb/>
hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Menſch wol<lb/>
jemals veraͤchtlich ſeyn, welcher den Himmel erben kan? Aeuſ-<lb/>ſerliche Achtung muͤſſen wir der hohen Geburt, den grauen Haa-<lb/>
ren, den ſeidnen Kleidern und andern irdiſchen Vorzuͤgen zollen;<lb/>
aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Naͤchſten. Und<lb/>ſie verdienet ſie um deſto mehr, je weniger ſie viehiſch und irdiſch<lb/>
geſinnet iſt.</p><lb/><p>Jede Nation ehret die Todten, und der ſchlechtſte Leichnam<lb/>
heiſchet eine Art von Ehrfurcht. Wunderliches Verfahren!<lb/>
Wir haben eine Achtung fuͤr Entſeelten, die wir bei ihrem Leben<lb/>
nicht fuͤr ſie hatten, und ſchaͤtzen den verweſenden Staub ſo hoch,<lb/>
daß wir uns uͤber ihm keine Suͤnde erlauben! Nun, ihr Armen!<lb/>ſo verberget euch denn in eure Schlafkammer. Jm Tode unter-<lb/>ſcheidet man euch doch von den Hunden, und ehret euer Grab-<lb/>
mal. Man ehret euch alsdann wie Regenten, d. i. man fuͤrch-<lb/>
tet ſich vor euch.</p><lb/><p>Der Stolz gegen den Naͤchſten iſt eins der abgeſchmackte-<lb/>ſten Laſter. Er ſetzt eine kindiſche Eigenliebe voraus, gruͤndet<lb/>ſich auf Vorurtheil und Unwiſſenheit, und erreichet ſeinen Zweck<lb/>
niemals. Wer innig geehrt ſeyn will, darf es nicht abtrotzen,<lb/>ſondern muß es ſich durch Tugend und Verdienſte erwerben.</p><lb/><p>Liebreicher Gott! haben ſchon Menſchen uͤber meine Hoffart<lb/>
zu dir hinaufgeſeufzet? — Ach! moͤgte ich dir doch aͤhnlich ſeyn,<lb/>
mein Erloͤſer! Du erniedrigteſt dich ſelbſt, entſagteſt deiner Herr-<lb/>
lichkeit, und wurdeſt fuͤr mich ein Knecht! Wie gnaͤdig iſt der<lb/>
Himmel! Er ſtehet jedem offen, dem alle Vorſaͤle verſchloſſen<lb/>ſind. Du nenneſt, o Jeſu! die Armen deine Bruͤder: mir<lb/>
darf alſo niemand fremde ſeyn. Jch will meinen Naͤchſten um<lb/>
deinetwillen hochſchaͤtzen: denn im Himmel ſtelleſt du ihn vieleicht<lb/>
neben mich.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[322[352]/0359]
Der 3te Junius.
Wir werden an jenem Gerichtstage uͤber unſre Mitgefaͤhrten er-
ſtaunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen
hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Menſch wol
jemals veraͤchtlich ſeyn, welcher den Himmel erben kan? Aeuſ-
ſerliche Achtung muͤſſen wir der hohen Geburt, den grauen Haa-
ren, den ſeidnen Kleidern und andern irdiſchen Vorzuͤgen zollen;
aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Naͤchſten. Und
ſie verdienet ſie um deſto mehr, je weniger ſie viehiſch und irdiſch
geſinnet iſt.
Jede Nation ehret die Todten, und der ſchlechtſte Leichnam
heiſchet eine Art von Ehrfurcht. Wunderliches Verfahren!
Wir haben eine Achtung fuͤr Entſeelten, die wir bei ihrem Leben
nicht fuͤr ſie hatten, und ſchaͤtzen den verweſenden Staub ſo hoch,
daß wir uns uͤber ihm keine Suͤnde erlauben! Nun, ihr Armen!
ſo verberget euch denn in eure Schlafkammer. Jm Tode unter-
ſcheidet man euch doch von den Hunden, und ehret euer Grab-
mal. Man ehret euch alsdann wie Regenten, d. i. man fuͤrch-
tet ſich vor euch.
Der Stolz gegen den Naͤchſten iſt eins der abgeſchmackte-
ſten Laſter. Er ſetzt eine kindiſche Eigenliebe voraus, gruͤndet
ſich auf Vorurtheil und Unwiſſenheit, und erreichet ſeinen Zweck
niemals. Wer innig geehrt ſeyn will, darf es nicht abtrotzen,
ſondern muß es ſich durch Tugend und Verdienſte erwerben.
Liebreicher Gott! haben ſchon Menſchen uͤber meine Hoffart
zu dir hinaufgeſeufzet? — Ach! moͤgte ich dir doch aͤhnlich ſeyn,
mein Erloͤſer! Du erniedrigteſt dich ſelbſt, entſagteſt deiner Herr-
lichkeit, und wurdeſt fuͤr mich ein Knecht! Wie gnaͤdig iſt der
Himmel! Er ſtehet jedem offen, dem alle Vorſaͤle verſchloſſen
ſind. Du nenneſt, o Jeſu! die Armen deine Bruͤder: mir
darf alſo niemand fremde ſeyn. Jch will meinen Naͤchſten um
deinetwillen hochſchaͤtzen: denn im Himmel ſtelleſt du ihn vieleicht
neben mich.
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 322[352]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/359>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.