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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 30te Mai.
sten verabsäumt! Kein Wunder, wenn ihnen jede schlaflose Nacht
ein banges Jahr zu seyn scheinet. Wer bei Tage über Lange-
weile und Einsamkeit klagt, hat die christliche Kunst noch nicht ge-
lernt, sich stundenlang mit Gott zu beschäftigen.

Da jedes Ungemach sein Nützliches hat, so müssen es auch
schlaflose Nächte haben; wenigstens ahmet der Tugendhafte als-
dann Gott darin nach, daß er das Böse zum Guten verwendet.
Sind mir also Nachtmachen beschieden, so will ich sie wie eine
bittre Arzenei von der Vorsicht annehmen; und fest überzeuget seyn,
daß sie zu meinem Besten gereichen. Jnsonderheit ist der Geist
kranker und bejahrter Personen in schlaflosen Nächten mehren-
theils unter einer genauern Bearbeitung des heiligen Geistes. Sie
zählen jeden Glockenschlag, und jeden Ruf des Wächters, und
lernen dadurch die Zeit berechnen, welche der S[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]nder so lieberlich
durchbringt. Es wird ihnen alle weltliche Freide und Zerstreu-
ung dermassen abgeschnitten, daß sie fast gezwurgen sind, zu beten.
Das heißt: Gott ziehet sie mit Banden der Libe zu sich: er räu-
met die Hindernisse weg, und bietet ihnen die Hand. Viele
Greise würden leichtsinniger seyn, wenn nich des Nachts wichtige
Vorstellungen vor ihrer Seele vorübergingen. Fast alle schlaf-
lose Nächte predigen über den Tert: besteke dein Haus!

Der du nicht schläfst noch schlummerst, Gott! wache du für
mich, so oft ich, nach treu vollendeter Arbeit schlafe. Entzieh
mir nicht die grosse Wohlthat nächtlicher Ruhe, auf daß ich die
Tage desto würksamer zu deinem Ruhme verleben mag! Zählest
du mir aber auch Nachtwachen zu, (ich selbst will sie mir nicht
schaffen) so laß nur meine Seele heiter seyn! Sey du alsdann
meine Beruhigung auf brennendem Lager; und kläre die fürch-
terlich langen Nächte durch die Verheissung des Himmels auf.
Jm Umgange mit dir ist die Nacht wie der Tag, Finsterniß wie
das Licht. Herr Jesu! sprich du mir Trost in der Todesnacht zu!

Der

Der 30te Mai.
ſten verabſaͤumt! Kein Wunder, wenn ihnen jede ſchlafloſe Nacht
ein banges Jahr zu ſeyn ſcheinet. Wer bei Tage uͤber Lange-
weile und Einſamkeit klagt, hat die chriſtliche Kunſt noch nicht ge-
lernt, ſich ſtundenlang mit Gott zu beſchaͤftigen.

Da jedes Ungemach ſein Nuͤtzliches hat, ſo muͤſſen es auch
ſchlafloſe Naͤchte haben; wenigſtens ahmet der Tugendhafte als-
dann Gott darin nach, daß er das Boͤſe zum Guten verwendet.
Sind mir alſo Nachtmachen beſchieden, ſo will ich ſie wie eine
bittre Arzenei von der Vorſicht annehmen; und feſt uͤberzeuget ſeyn,
daß ſie zu meinem Beſten gereichen. Jnſonderheit iſt der Geiſt
kranker und bejahrter Perſonen in ſchlafloſen Naͤchten mehren-
theils unter einer genauern Bearbeitung des heiligen Geiſtes. Sie
zaͤhlen jeden Glockenſchlag, und jeden Ruf des Waͤchters, und
lernen dadurch die Zeit berechnen, welche der S[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]nder ſo lieberlich
durchbringt. Es wird ihnen alle weltliche Freide und Zerſtreu-
ung dermaſſen abgeſchnitten, daß ſie faſt gezwurgen ſind, zu beten.
Das heißt: Gott ziehet ſie mit Banden der Libe zu ſich: er raͤu-
met die Hinderniſſe weg, und bietet ihnen die Hand. Viele
Greiſe wuͤrden leichtſinniger ſeyn, wenn nich des Nachts wichtige
Vorſtellungen vor ihrer Seele voruͤbergingen. Faſt alle ſchlaf-
loſe Naͤchte predigen uͤber den Tert: beſteke dein Haus!

Der du nicht ſchlaͤfſt noch ſchlummerſt, Gott! wache du fuͤr
mich, ſo oft ich, nach treu vollendeter Arbeit ſchlafe. Entzieh
mir nicht die groſſe Wohlthat naͤchtlicher Ruhe, auf daß ich die
Tage deſto wuͤrkſamer zu deinem Ruhme verleben mag! Zaͤhleſt
du mir aber auch Nachtwachen zu, (ich ſelbſt will ſie mir nicht
ſchaffen) ſo laß nur meine Seele heiter ſeyn! Sey du alsdann
meine Beruhigung auf brennendem Lager; und klaͤre die fuͤrch-
terlich langen Naͤchte durch die Verheiſſung des Himmels auf.
Jm Umgange mit dir iſt die Nacht wie der Tag, Finſterniß wie
das Licht. Herr Jeſu! ſprich du mir Troſt in der Todesnacht zu!

Der
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[312[342]/0349] Der 30te Mai. ſten verabſaͤumt! Kein Wunder, wenn ihnen jede ſchlafloſe Nacht ein banges Jahr zu ſeyn ſcheinet. Wer bei Tage uͤber Lange- weile und Einſamkeit klagt, hat die chriſtliche Kunſt noch nicht ge- lernt, ſich ſtundenlang mit Gott zu beſchaͤftigen. Da jedes Ungemach ſein Nuͤtzliches hat, ſo muͤſſen es auch ſchlafloſe Naͤchte haben; wenigſtens ahmet der Tugendhafte als- dann Gott darin nach, daß er das Boͤſe zum Guten verwendet. Sind mir alſo Nachtmachen beſchieden, ſo will ich ſie wie eine bittre Arzenei von der Vorſicht annehmen; und feſt uͤberzeuget ſeyn, daß ſie zu meinem Beſten gereichen. Jnſonderheit iſt der Geiſt kranker und bejahrter Perſonen in ſchlafloſen Naͤchten mehren- theils unter einer genauern Bearbeitung des heiligen Geiſtes. Sie zaͤhlen jeden Glockenſchlag, und jeden Ruf des Waͤchters, und lernen dadurch die Zeit berechnen, welche der S_nder ſo lieberlich durchbringt. Es wird ihnen alle weltliche Freide und Zerſtreu- ung dermaſſen abgeſchnitten, daß ſie faſt gezwurgen ſind, zu beten. Das heißt: Gott ziehet ſie mit Banden der Libe zu ſich: er raͤu- met die Hinderniſſe weg, und bietet ihnen die Hand. Viele Greiſe wuͤrden leichtſinniger ſeyn, wenn nich des Nachts wichtige Vorſtellungen vor ihrer Seele voruͤbergingen. Faſt alle ſchlaf- loſe Naͤchte predigen uͤber den Tert: beſteke dein Haus! Der du nicht ſchlaͤfſt noch ſchlummerſt, Gott! wache du fuͤr mich, ſo oft ich, nach treu vollendeter Arbeit ſchlafe. Entzieh mir nicht die groſſe Wohlthat naͤchtlicher Ruhe, auf daß ich die Tage deſto wuͤrkſamer zu deinem Ruhme verleben mag! Zaͤhleſt du mir aber auch Nachtwachen zu, (ich ſelbſt will ſie mir nicht ſchaffen) ſo laß nur meine Seele heiter ſeyn! Sey du alsdann meine Beruhigung auf brennendem Lager; und klaͤre die fuͤrch- terlich langen Naͤchte durch die Verheiſſung des Himmels auf. Jm Umgange mit dir iſt die Nacht wie der Tag, Finſterniß wie das Licht. Herr Jeſu! ſprich du mir Troſt in der Todesnacht zu! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 312[342]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/349>, abgerufen am 24.11.2024.