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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 29te Mai.
Wege laufen, auf welche du, mein Führer! mich nicht beglei-
ten kanst! Hätte ich mich nach deinem Worte gehalten, so wäre
ich meinen Weg unsträflich gewandelt, und mein Herz könte in
dieser Abendstunde von Lob und Freude überfliessen. So aber
stehe ich beschämt vor dir, wie ein Kind, das sich wund fiel, und
nun die Verweise seines Vaters anhören muß! Ja, wenn es das
erstemal wäre, daß ich so beschämt vor dir stände! Und wrhin
wird mich denn am Ende meine Zügellosigkeit führen? Wie oft
werde ich noch rufen müssen: Herr! hilf mir wieder auf, oder
ich verderbe! Will ich denn immer ein strauchelndes Kind blei-
ben, und niemals das männliche Alter im Christenthun errei-
chen? Soll denn niemals --

Nein! ich will nicht verzagen. Noch bearbeitest du mich,
Geist Gottes! Meine jetzige Betrübniß über mein intres Ver-
derben ist heilig, und ist dein Werk. Ach! fahre fort mit deinen
Gnadenwürkungen, und laß mich niemals fühllos bei meinen
Sünden seyn! Thränen über meine Gebrechen sind enem sauften
Mairegen gleich: sie erquicken das lechzende Herz, [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]nd geben der
Tugend Nahrung und Wachsthum. Die göttliche Traurigkeit
würket eine Reue zur Seligkeit, die niemand geretet. Jch bin
jetzt davon ein Beispiel. Meine Betrachtung fi[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]g sich traurig
mit Vorwürfen an, und endiget sich mit dei[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]m Lob, heiliger
Geist!

Anfänger und Vollender meines Glaubns! Jch bete dich
an, daß du mich Abtrünnigen noch immer aufsuchst; und ich
freue mich, daß du meinen Verstand immer mehr erleuchtest,
meinen Willen heiligest, und meinen Tigenden so wol als mei-
nem Glauben, einen höhern Grad und eine neue Stärke erthei-
lest. Bleibe ich in diesen Gesinnungen treu, und verbinde ich
damit redlichen Gebrauch des Worts Gottes, Gebet und Sakra-
ment: dann biete ich dem Tode und der Hölle trotz. Vater! ich
bin dennoch dein Kind; dein Sohn hat mich erlöset, und dein
freudiger Geist erhält mich dir.

Der

Der 29te Mai.
Wege laufen, auf welche du, mein Fuͤhrer! mich nicht beglei-
ten kanſt! Haͤtte ich mich nach deinem Worte gehalten, ſo waͤre
ich meinen Weg unſtraͤflich gewandelt, und mein Herz koͤnte in
dieſer Abendſtunde von Lob und Freude uͤberflieſſen. So aber
ſtehe ich beſchaͤmt vor dir, wie ein Kind, das ſich wund fiel, und
nun die Verweiſe ſeines Vaters anhoͤren muß! Ja, wenn es das
erſtemal waͤre, daß ich ſo beſchaͤmt vor dir ſtaͤnde! Und wrhin
wird mich denn am Ende meine Zuͤgelloſigkeit fuͤhren? Wie oft
werde ich noch rufen muͤſſen: Herr! hilf mir wieder auf, oder
ich verderbe! Will ich denn immer ein ſtrauchelndes Kind blei-
ben, und niemals das maͤnnliche Alter im Chriſtenthun errei-
chen? Soll denn niemals —

Nein! ich will nicht verzagen. Noch bearbeiteſt du mich,
Geiſt Gottes! Meine jetzige Betruͤbniß uͤber mein intres Ver-
derben iſt heilig, und iſt dein Werk. Ach! fahre fort mit deinen
Gnadenwuͤrkungen, und laß mich niemals fuͤhllos bei meinen
Suͤnden ſeyn! Thraͤnen uͤber meine Gebrechen ſind enem ſauften
Mairegen gleich: ſie erquicken das lechzende Herz, [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]nd geben der
Tugend Nahrung und Wachsthum. Die goͤttliche Traurigkeit
wuͤrket eine Reue zur Seligkeit, die niemand geretet. Jch bin
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Geiſt!

Anfaͤnger und Vollender meines Glaubns! Jch bete dich
an, daß du mich Abtruͤnnigen noch immer aufſuchſt; und ich
freue mich, daß du meinen Verſtand immer mehr erleuchteſt,
meinen Willen heiligeſt, und meinen Tigenden ſo wol als mei-
nem Glauben, einen hoͤhern Grad und eine neue Staͤrke erthei-
leſt. Bleibe ich in dieſen Geſinnungen treu, und verbinde ich
damit redlichen Gebrauch des Worts Gottes, Gebet und Sakra-
ment: dann biete ich dem Tode und der Hoͤlle trotz. Vater! ich
bin dennoch dein Kind; dein Sohn hat mich erloͤſet, und dein
freudiger Geiſt erhaͤlt mich dir.

Der
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[310[340]/0347] Der 29te Mai. Wege laufen, auf welche du, mein Fuͤhrer! mich nicht beglei- ten kanſt! Haͤtte ich mich nach deinem Worte gehalten, ſo waͤre ich meinen Weg unſtraͤflich gewandelt, und mein Herz koͤnte in dieſer Abendſtunde von Lob und Freude uͤberflieſſen. So aber ſtehe ich beſchaͤmt vor dir, wie ein Kind, das ſich wund fiel, und nun die Verweiſe ſeines Vaters anhoͤren muß! Ja, wenn es das erſtemal waͤre, daß ich ſo beſchaͤmt vor dir ſtaͤnde! Und wrhin wird mich denn am Ende meine Zuͤgelloſigkeit fuͤhren? Wie oft werde ich noch rufen muͤſſen: Herr! hilf mir wieder auf, oder ich verderbe! Will ich denn immer ein ſtrauchelndes Kind blei- ben, und niemals das maͤnnliche Alter im Chriſtenthun errei- chen? Soll denn niemals — Nein! ich will nicht verzagen. Noch bearbeiteſt du mich, Geiſt Gottes! Meine jetzige Betruͤbniß uͤber mein intres Ver- derben iſt heilig, und iſt dein Werk. Ach! fahre fort mit deinen Gnadenwuͤrkungen, und laß mich niemals fuͤhllos bei meinen Suͤnden ſeyn! Thraͤnen uͤber meine Gebrechen ſind enem ſauften Mairegen gleich: ſie erquicken das lechzende Herz, _nd geben der Tugend Nahrung und Wachsthum. Die goͤttliche Traurigkeit wuͤrket eine Reue zur Seligkeit, die niemand geretet. Jch bin jetzt davon ein Beiſpiel. Meine Betrachtung fi_g ſich traurig mit Vorwuͤrfen an, und endiget ſich mit dei_m Lob, heiliger Geiſt! Anfaͤnger und Vollender meines Glaubns! Jch bete dich an, daß du mich Abtruͤnnigen noch immer aufſuchſt; und ich freue mich, daß du meinen Verſtand immer mehr erleuchteſt, meinen Willen heiligeſt, und meinen Tigenden ſo wol als mei- nem Glauben, einen hoͤhern Grad und eine neue Staͤrke erthei- leſt. Bleibe ich in dieſen Geſinnungen treu, und verbinde ich damit redlichen Gebrauch des Worts Gottes, Gebet und Sakra- ment: dann biete ich dem Tode und der Hoͤlle trotz. Vater! ich bin dennoch dein Kind; dein Sohn hat mich erloͤſet, und dein freudiger Geiſt erhaͤlt mich dir. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 310[340]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/347>, abgerufen am 24.11.2024.