und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallästen auf Landhäuser; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat das Eitele und immerwährende Einerlei unter der Sonne sehr lebhaft geschildert. Fromme und vernünftige Menschen sterben daher im dreißigsten vierzigsten Jahre alt und lebenssatt.
O! so kan ich denn für die Erde unmöglich erschaffen seyn! Meine Seele durstet nach mehrerem, als ihr dieses Wirbelleben gewähren kan. Und doch ist sie hier nur noch in ihrer Kindheit. Vier Jahrszeiten, welche sich immer so ähnlich sehen, als Zwil- lingsgeschwister, füllen einen Geist nicht aus, der in sich den Be- ruf fühlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur andern zu steigen. Kan das meine Bestimmung seyn, im Alter wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit Gott; und indem ich hierin weiter fortschreiten, und den Gipfel erreichen will, überfält mich der Schlaf, und ich sinke wieder zurück? Zwar hat dis Leben viele abgeänderte Scenen: aber die beweisen mir nur, daß ich zu noch abgeändertern erschaffen bin, und daß Gott unerschöpflich genug sey, meine feurigste Begier- den zu stillen.
Die Furcht des Herrn ist künftiger Weisheit Anfang. Die Religion allein füllet einigermassen die Seele aus; denn sie hat Gott im Gesichte. Nur durch sie wird die schale Luft der Erde schmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert mich, und frischet das Alltägliche und Maschinenmäßige meines Schlafengehens auf. Erheb dich also, mein unsterblicher Geist! zu dem, der allein dich sättigen kan. Dring durch den Schat- ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Frühlings verbirgt, dahin, wo ungezählte Welten dir immer neue Vollkommenheiten ihres Schöpfers darstellen werden. Hier wandle ich unter tau- sendmal gesehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen und Welten. Einst bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt mischen sich Seufzer mit ein, und ich -- ermüde.
Der
Der 22te Mai.
und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallaͤſten auf Landhaͤuſer; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat das Eitele und immerwaͤhrende Einerlei unter der Sonne ſehr lebhaft geſchildert. Fromme und vernuͤnftige Menſchen ſterben daher im dreißigſten vierzigſten Jahre alt und lebensſatt.
O! ſo kan ich denn fuͤr die Erde unmoͤglich erſchaffen ſeyn! Meine Seele durſtet nach mehrerem, als ihr dieſes Wirbelleben gewaͤhren kan. Und doch iſt ſie hier nur noch in ihrer Kindheit. Vier Jahrszeiten, welche ſich immer ſo aͤhnlich ſehen, als Zwil- lingsgeſchwiſter, fuͤllen einen Geiſt nicht aus, der in ſich den Be- ruf fuͤhlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur andern zu ſteigen. Kan das meine Beſtimmung ſeyn, im Alter wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit Gott; und indem ich hierin weiter fortſchreiten, und den Gipfel erreichen will, uͤberfaͤlt mich der Schlaf, und ich ſinke wieder zuruͤck? Zwar hat dis Leben viele abgeaͤnderte Scenen: aber die beweiſen mir nur, daß ich zu noch abgeaͤndertern erſchaffen bin, und daß Gott unerſchoͤpflich genug ſey, meine feurigſte Begier- den zu ſtillen.
Die Furcht des Herrn iſt kuͤnftiger Weisheit Anfang. Die Religion allein fuͤllet einigermaſſen die Seele aus; denn ſie hat Gott im Geſichte. Nur durch ſie wird die ſchale Luft der Erde ſchmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert mich, und friſchet das Alltaͤgliche und Maſchinenmaͤßige meines Schlafengehens auf. Erheb dich alſo, mein unſterblicher Geiſt! zu dem, der allein dich ſaͤttigen kan. Dring durch den Schat- ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Fruͤhlings verbirgt, dahin, wo ungezaͤhlte Welten dir immer neue Vollkommenheiten ihres Schoͤpfers darſtellen werden. Hier wandle ich unter tau- ſendmal geſehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen und Welten. Einſt bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt miſchen ſich Seufzer mit ein, und ich — ermuͤde.
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[296[326]/0333]
Der 22te Mai.
und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallaͤſten
auf Landhaͤuſer; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat
das Eitele und immerwaͤhrende Einerlei unter der Sonne ſehr
lebhaft geſchildert. Fromme und vernuͤnftige Menſchen ſterben
daher im dreißigſten vierzigſten Jahre alt und lebensſatt.
O! ſo kan ich denn fuͤr die Erde unmoͤglich erſchaffen ſeyn!
Meine Seele durſtet nach mehrerem, als ihr dieſes Wirbelleben
gewaͤhren kan. Und doch iſt ſie hier nur noch in ihrer Kindheit.
Vier Jahrszeiten, welche ſich immer ſo aͤhnlich ſehen, als Zwil-
lingsgeſchwiſter, fuͤllen einen Geiſt nicht aus, der in ſich den Be-
ruf fuͤhlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur
andern zu ſteigen. Kan das meine Beſtimmung ſeyn, im Alter
wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit
Gott; und indem ich hierin weiter fortſchreiten, und den Gipfel
erreichen will, uͤberfaͤlt mich der Schlaf, und ich ſinke wieder
zuruͤck? Zwar hat dis Leben viele abgeaͤnderte Scenen: aber die
beweiſen mir nur, daß ich zu noch abgeaͤndertern erſchaffen bin,
und daß Gott unerſchoͤpflich genug ſey, meine feurigſte Begier-
den zu ſtillen.
Die Furcht des Herrn iſt kuͤnftiger Weisheit Anfang. Die
Religion allein fuͤllet einigermaſſen die Seele aus; denn ſie hat
Gott im Geſichte. Nur durch ſie wird die ſchale Luft der Erde
ſchmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert
mich, und friſchet das Alltaͤgliche und Maſchinenmaͤßige meines
Schlafengehens auf. Erheb dich alſo, mein unſterblicher Geiſt!
zu dem, der allein dich ſaͤttigen kan. Dring durch den Schat-
ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Fruͤhlings verbirgt,
dahin, wo ungezaͤhlte Welten dir immer neue Vollkommenheiten
ihres Schoͤpfers darſtellen werden. Hier wandle ich unter tau-
ſendmal geſehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen
und Welten. Einſt bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt miſchen
ſich Seufzer mit ein, und ich — ermuͤde.
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 296[326]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/333>, abgerufen am 25.11.2024.
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