Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Der 22te Mai.
und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallästen
auf Landhäuser; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat
das Eitele und immerwährende Einerlei unter der Sonne sehr
lebhaft geschildert. Fromme und vernünftige Menschen sterben
daher im dreißigsten vierzigsten Jahre alt und lebenssatt.

O! so kan ich denn für die Erde unmöglich erschaffen seyn!
Meine Seele durstet nach mehrerem, als ihr dieses Wirbelleben
gewähren kan. Und doch ist sie hier nur noch in ihrer Kindheit.
Vier Jahrszeiten, welche sich immer so ähnlich sehen, als Zwil-
lingsgeschwister, füllen einen Geist nicht aus, der in sich den Be-
ruf fühlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur
andern zu steigen. Kan das meine Bestimmung seyn, im Alter
wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit
Gott; und indem ich hierin weiter fortschreiten, und den Gipfel
erreichen will, überfält mich der Schlaf, und ich sinke wieder
zurück? Zwar hat dis Leben viele abgeänderte Scenen: aber die
beweisen mir nur, daß ich zu noch abgeändertern erschaffen bin,
und daß Gott unerschöpflich genug sey, meine feurigste Begier-
den zu stillen.

Die Furcht des Herrn ist künftiger Weisheit Anfang. Die
Religion allein füllet einigermassen die Seele aus; denn sie hat
Gott im Gesichte. Nur durch sie wird die schale Luft der Erde
schmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert
mich, und frischet das Alltägliche und Maschinenmäßige meines
Schlafengehens auf. Erheb dich also, mein unsterblicher Geist!
zu dem, der allein dich sättigen kan. Dring durch den Schat-
ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Frühlings verbirgt,
dahin, wo ungezählte Welten dir immer neue Vollkommenheiten
ihres Schöpfers darstellen werden. Hier wandle ich unter tau-
sendmal gesehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen
und Welten. Einst bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt mischen
sich Seufzer mit ein, und ich -- ermüde.

Der

Der 22te Mai.
und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallaͤſten
auf Landhaͤuſer; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat
das Eitele und immerwaͤhrende Einerlei unter der Sonne ſehr
lebhaft geſchildert. Fromme und vernuͤnftige Menſchen ſterben
daher im dreißigſten vierzigſten Jahre alt und lebensſatt.

O! ſo kan ich denn fuͤr die Erde unmoͤglich erſchaffen ſeyn!
Meine Seele durſtet nach mehrerem, als ihr dieſes Wirbelleben
gewaͤhren kan. Und doch iſt ſie hier nur noch in ihrer Kindheit.
Vier Jahrszeiten, welche ſich immer ſo aͤhnlich ſehen, als Zwil-
lingsgeſchwiſter, fuͤllen einen Geiſt nicht aus, der in ſich den Be-
ruf fuͤhlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur
andern zu ſteigen. Kan das meine Beſtimmung ſeyn, im Alter
wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit
Gott; und indem ich hierin weiter fortſchreiten, und den Gipfel
erreichen will, uͤberfaͤlt mich der Schlaf, und ich ſinke wieder
zuruͤck? Zwar hat dis Leben viele abgeaͤnderte Scenen: aber die
beweiſen mir nur, daß ich zu noch abgeaͤndertern erſchaffen bin,
und daß Gott unerſchoͤpflich genug ſey, meine feurigſte Begier-
den zu ſtillen.

Die Furcht des Herrn iſt kuͤnftiger Weisheit Anfang. Die
Religion allein fuͤllet einigermaſſen die Seele aus; denn ſie hat
Gott im Geſichte. Nur durch ſie wird die ſchale Luft der Erde
ſchmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert
mich, und friſchet das Alltaͤgliche und Maſchinenmaͤßige meines
Schlafengehens auf. Erheb dich alſo, mein unſterblicher Geiſt!
zu dem, der allein dich ſaͤttigen kan. Dring durch den Schat-
ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Fruͤhlings verbirgt,
dahin, wo ungezaͤhlte Welten dir immer neue Vollkommenheiten
ihres Schoͤpfers darſtellen werden. Hier wandle ich unter tau-
ſendmal geſehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen
und Welten. Einſt bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt miſchen
ſich Seufzer mit ein, und ich — ermuͤde.

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0333" n="296[326]"/><fw place="top" type="header">Der 22<hi rendition="#sup">te</hi> Mai.</fw><lb/>
und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpalla&#x0364;&#x017F;ten<lb/>
auf Landha&#x0364;u&#x017F;er; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat<lb/>
das Eitele und immerwa&#x0364;hrende Einerlei unter der Sonne &#x017F;ehr<lb/>
lebhaft ge&#x017F;childert. Fromme und vernu&#x0364;nftige Men&#x017F;chen &#x017F;terben<lb/>
daher im dreißig&#x017F;ten vierzig&#x017F;ten Jahre alt und lebens&#x017F;att.</p><lb/>
            <p>O! &#x017F;o kan ich denn fu&#x0364;r die Erde unmo&#x0364;glich er&#x017F;chaffen &#x017F;eyn!<lb/>
Meine Seele dur&#x017F;tet nach mehrerem, als ihr die&#x017F;es Wirbelleben<lb/>
gewa&#x0364;hren kan. Und doch i&#x017F;t &#x017F;ie hier nur noch in ihrer Kindheit.<lb/>
Vier Jahrszeiten, welche &#x017F;ich immer &#x017F;o a&#x0364;hnlich &#x017F;ehen, als Zwil-<lb/>
lingsge&#x017F;chwi&#x017F;ter, fu&#x0364;llen einen Gei&#x017F;t nicht aus, der in &#x017F;ich den Be-<lb/>
ruf fu&#x0364;hlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur<lb/>
andern zu &#x017F;teigen. Kan das meine Be&#x017F;timmung &#x017F;eyn, im Alter<lb/>
wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit<lb/>
Gott; und indem ich hierin weiter fort&#x017F;chreiten, und den Gipfel<lb/>
erreichen will, u&#x0364;berfa&#x0364;lt mich der Schlaf, und ich &#x017F;inke wieder<lb/>
zuru&#x0364;ck? Zwar hat dis Leben viele abgea&#x0364;nderte Scenen: aber die<lb/>
bewei&#x017F;en mir nur, daß ich zu noch abgea&#x0364;ndertern er&#x017F;chaffen bin,<lb/>
und daß Gott uner&#x017F;cho&#x0364;pflich genug &#x017F;ey, meine feurig&#x017F;te Begier-<lb/>
den zu &#x017F;tillen.</p><lb/>
            <p>Die Furcht des Herrn i&#x017F;t ku&#x0364;nftiger Weisheit Anfang. Die<lb/>
Religion allein fu&#x0364;llet einigerma&#x017F;&#x017F;en die Seele aus; denn &#x017F;ie hat<lb/>
Gott im Ge&#x017F;ichte. Nur durch &#x017F;ie wird die &#x017F;chale Luft der Erde<lb/>
&#x017F;chmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert<lb/>
mich, und fri&#x017F;chet das Allta&#x0364;gliche und Ma&#x017F;chinenma&#x0364;ßige meines<lb/>
Schlafengehens auf. Erheb dich al&#x017F;o, mein un&#x017F;terblicher Gei&#x017F;t!<lb/>
zu dem, der allein dich &#x017F;a&#x0364;ttigen kan. Dring durch den Schat-<lb/>
ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Fru&#x0364;hlings verbirgt,<lb/>
dahin, wo ungeza&#x0364;hlte Welten dir immer neue Vollkommenheiten<lb/>
ihres Scho&#x0364;pfers dar&#x017F;tellen werden. Hier wandle ich unter tau-<lb/>
&#x017F;endmal ge&#x017F;ehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen<lb/>
und Welten. Ein&#x017F;t bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt mi&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;ich Seufzer mit ein, und ich &#x2014; ermu&#x0364;de.</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296[326]/0333] Der 22te Mai. und werden von Ekel und Langeweile aus ihren Winterpallaͤſten auf Landhaͤuſer; von der Jagd in die Oper gejagt. Salomo hat das Eitele und immerwaͤhrende Einerlei unter der Sonne ſehr lebhaft geſchildert. Fromme und vernuͤnftige Menſchen ſterben daher im dreißigſten vierzigſten Jahre alt und lebensſatt. O! ſo kan ich denn fuͤr die Erde unmoͤglich erſchaffen ſeyn! Meine Seele durſtet nach mehrerem, als ihr dieſes Wirbelleben gewaͤhren kan. Und doch iſt ſie hier nur noch in ihrer Kindheit. Vier Jahrszeiten, welche ſich immer ſo aͤhnlich ſehen, als Zwil- lingsgeſchwiſter, fuͤllen einen Geiſt nicht aus, der in ſich den Be- ruf fuͤhlet, in alle Ewigkeit von einer Erkentniß und Freude zur andern zu ſteigen. Kan das meine Beſtimmung ſeyn, im Alter wieder ein Kind zu werden? Jch denke, ich handle, ich rede mit Gott; und indem ich hierin weiter fortſchreiten, und den Gipfel erreichen will, uͤberfaͤlt mich der Schlaf, und ich ſinke wieder zuruͤck? Zwar hat dis Leben viele abgeaͤnderte Scenen: aber die beweiſen mir nur, daß ich zu noch abgeaͤndertern erſchaffen bin, und daß Gott unerſchoͤpflich genug ſey, meine feurigſte Begier- den zu ſtillen. Die Furcht des Herrn iſt kuͤnftiger Weisheit Anfang. Die Religion allein fuͤllet einigermaſſen die Seele aus; denn ſie hat Gott im Geſichte. Nur durch ſie wird die ſchale Luft der Erde ſchmackhaft. Eine Unterhaltung mit Gott am Abend ermuntert mich, und friſchet das Alltaͤgliche und Maſchinenmaͤßige meines Schlafengehens auf. Erheb dich alſo, mein unſterblicher Geiſt! zu dem, der allein dich ſaͤttigen kan. Dring durch den Schat- ten der Nacht, der dir jetzt die Pracht des Fruͤhlings verbirgt, dahin, wo ungezaͤhlte Welten dir immer neue Vollkommenheiten ihres Schoͤpfers darſtellen werden. Hier wandle ich unter tau- ſendmal geſehenen Blumen: dort unter immer neuen Sternen und Welten. Einſt bin ich ganz Leben, ganz Lob: jetzt miſchen ſich Seufzer mit ein, und ich — ermuͤde. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/333
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 296[326]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/333>, abgerufen am 25.11.2024.