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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 21te Mai.
Der beste Vater, den jemals die Erde sah, war ein Tirann
gegen dich.

Aber wie verhalte ich mich denn? Bin ich Fremdling oder
Kind? Du gabst mir väterliche Befehle: ich aber höre entweder
nicht drauf, untersuche erst mißtrauisch ihre Nützlichkeit oder ihren
Werth, und übe sie allenfals sklavisch aus. Wäre ich Kind, so
würde ich auf dein Geheiß die schwerste Lasten mit schwachen Hän-
den angreifen, mit der Ueberzeugung, daß du nichts ohne gütige
Absichten befehlen könnest. Jch würde allenfals, nicht über deine
Gebote, sondern über meine Schwäche klagen, und halb freudig,
halb weinend deiner väterlichen Hülfe entgegen sehen. Jch würde
äusserst empfindlich für deine Ehre seyn, und keinem, der dich
verhöhnet, Beifall zulächeln; könte er mirs auch mit beneideten
Gnadenblicken und Leckerbissen bezahlen, oder wie die Magd mich
drohen, vor welcher Petrus verleugnete.

Vater! höre mein kindliches Lallen, und reiche mir deine
helfende Hand. Ohne knechtische Furcht und Eigendünkel wage
ich es, mich jetzt zu dem Range deines Kindes zu erheben. Jch,
ein Kind des Koniges aller Könige? Aber ich habe ja meine hohe
Geburt mit niederträchtiger Bosheit befleckt! Satan und Welt
nennen mich ihr Kind, wie kan ich denn Gottes seyn! -- Vater!
trotz aller meiner Ankläger dennoch mein Vater! dir allein habe
ich gesündiget, und bin freilich nicht werth, daß ich dein Kind
heisse. Aber so leicht mir auch die Sünde ward, so wird dir
doch die Vergebung noch leichter, wenn ich mit schamrothen Wan-
gen zu dir zurückkehre. Gib mir mein Sohn dein Herz: das ist
deine ganze Foderung? O! hier ist es, mein einiger Vater! mache
es dir immer kindlicher und folgsamer! Mit deines eingebornen
Sohnes Blut bin ich erlöset, mir soll die Hölle meine Kindschaft
nicht rauben. Auch wenn du mich züchtigest, wenn du meinen
Leib tödten wirst, nenne ich mich zuversichtlich dein Kind. Vater!
in deine Hände befehle ich meinen Geist!

Der

Der 21te Mai.
Der beſte Vater, den jemals die Erde ſah, war ein Tirann
gegen dich.

Aber wie verhalte ich mich denn? Bin ich Fremdling oder
Kind? Du gabſt mir vaͤterliche Befehle: ich aber hoͤre entweder
nicht drauf, unterſuche erſt mißtrauiſch ihre Nuͤtzlichkeit oder ihren
Werth, und uͤbe ſie allenfals ſklaviſch aus. Waͤre ich Kind, ſo
wuͤrde ich auf dein Geheiß die ſchwerſte Laſten mit ſchwachen Haͤn-
den angreifen, mit der Ueberzeugung, daß du nichts ohne guͤtige
Abſichten befehlen koͤnneſt. Jch wuͤrde allenfals, nicht uͤber deine
Gebote, ſondern uͤber meine Schwaͤche klagen, und halb freudig,
halb weinend deiner vaͤterlichen Huͤlfe entgegen ſehen. Jch wuͤrde
aͤuſſerſt empfindlich fuͤr deine Ehre ſeyn, und keinem, der dich
verhoͤhnet, Beifall zulaͤcheln; koͤnte er mirs auch mit beneideten
Gnadenblicken und Leckerbiſſen bezahlen, oder wie die Magd mich
drohen, vor welcher Petrus verleugnete.

Vater! hoͤre mein kindliches Lallen, und reiche mir deine
helfende Hand. Ohne knechtiſche Furcht und Eigenduͤnkel wage
ich es, mich jetzt zu dem Range deines Kindes zu erheben. Jch,
ein Kind des Koniges aller Koͤnige? Aber ich habe ja meine hohe
Geburt mit niedertraͤchtiger Bosheit befleckt! Satan und Welt
nennen mich ihr Kind, wie kan ich denn Gottes ſeyn! — Vater!
trotz aller meiner Anklaͤger dennoch mein Vater! dir allein habe
ich geſuͤndiget, und bin freilich nicht werth, daß ich dein Kind
heiſſe. Aber ſo leicht mir auch die Suͤnde ward, ſo wird dir
doch die Vergebung noch leichter, wenn ich mit ſchamrothen Wan-
gen zu dir zuruͤckkehre. Gib mir mein Sohn dein Herz: das iſt
deine ganze Foderung? O! hier iſt es, mein einiger Vater! mache
es dir immer kindlicher und folgſamer! Mit deines eingebornen
Sohnes Blut bin ich erloͤſet, mir ſoll die Hoͤlle meine Kindſchaft
nicht rauben. Auch wenn du mich zuͤchtigeſt, wenn du meinen
Leib toͤdten wirſt, nenne ich mich zuverſichtlich dein Kind. Vater!
in deine Haͤnde befehle ich meinen Geiſt!

Der
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[294[324]/0331] Der 21te Mai. Der beſte Vater, den jemals die Erde ſah, war ein Tirann gegen dich. Aber wie verhalte ich mich denn? Bin ich Fremdling oder Kind? Du gabſt mir vaͤterliche Befehle: ich aber hoͤre entweder nicht drauf, unterſuche erſt mißtrauiſch ihre Nuͤtzlichkeit oder ihren Werth, und uͤbe ſie allenfals ſklaviſch aus. Waͤre ich Kind, ſo wuͤrde ich auf dein Geheiß die ſchwerſte Laſten mit ſchwachen Haͤn- den angreifen, mit der Ueberzeugung, daß du nichts ohne guͤtige Abſichten befehlen koͤnneſt. Jch wuͤrde allenfals, nicht uͤber deine Gebote, ſondern uͤber meine Schwaͤche klagen, und halb freudig, halb weinend deiner vaͤterlichen Huͤlfe entgegen ſehen. Jch wuͤrde aͤuſſerſt empfindlich fuͤr deine Ehre ſeyn, und keinem, der dich verhoͤhnet, Beifall zulaͤcheln; koͤnte er mirs auch mit beneideten Gnadenblicken und Leckerbiſſen bezahlen, oder wie die Magd mich drohen, vor welcher Petrus verleugnete. Vater! hoͤre mein kindliches Lallen, und reiche mir deine helfende Hand. Ohne knechtiſche Furcht und Eigenduͤnkel wage ich es, mich jetzt zu dem Range deines Kindes zu erheben. Jch, ein Kind des Koniges aller Koͤnige? Aber ich habe ja meine hohe Geburt mit niedertraͤchtiger Bosheit befleckt! Satan und Welt nennen mich ihr Kind, wie kan ich denn Gottes ſeyn! — Vater! trotz aller meiner Anklaͤger dennoch mein Vater! dir allein habe ich geſuͤndiget, und bin freilich nicht werth, daß ich dein Kind heiſſe. Aber ſo leicht mir auch die Suͤnde ward, ſo wird dir doch die Vergebung noch leichter, wenn ich mit ſchamrothen Wan- gen zu dir zuruͤckkehre. Gib mir mein Sohn dein Herz: das iſt deine ganze Foderung? O! hier iſt es, mein einiger Vater! mache es dir immer kindlicher und folgſamer! Mit deines eingebornen Sohnes Blut bin ich erloͤſet, mir ſoll die Hoͤlle meine Kindſchaft nicht rauben. Auch wenn du mich zuͤchtigeſt, wenn du meinen Leib toͤdten wirſt, nenne ich mich zuverſichtlich dein Kind. Vater! in deine Haͤnde befehle ich meinen Geiſt! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 294[324]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/331>, abgerufen am 22.11.2024.