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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 20te Mai.

Schwierigkeiten sinden sich anfangs bei allen Dingen. Da
es aber noch immer gemeine Christen gibt, welche eine schöne und
gründliche Kentniß unsrer Religion haben: so fallen dadurch alle
meine Ausflüchte weg. Zu geschweigen, daß uns der heilige Geist
in alle Warheit leitet, wenn wir nur beten und in der Schrift
forschen wollen. Der Einwurf: daß man doch die viele Chri-
sten nicht verdammen könne, welche, auf gut Glück, ihrer Eltern
Religion annehmen, ohne jemals die Warheiten derselben untersucht
zu haben: dieser Einwurf hebet doch unsre Verbindlichkeit nicht
auf, Gott von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe und von
allen Kräften zu lieben; folglich auch mit Nachdenken und Ver-
stand! Und wird es nicht Grade der Seligkeit geben? Werden
nicht Lehrer, oder nachdenkende Christen, leuchten wie des Him-
melsglanz? und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, solglich
wissen, an wen sie glauben, wie die Sterne immer und ewiglich?

Herr Jesu! deine Lehre ist göttliche Weisheit: wie lieblos,
wenn ich sie verschmähe! Du hast mich berufen von der Finster-
niß zum Lichte; das Schattenwerk des alten Testaments ist ver-
gangen: ich muß dir, als ein erleuchteter Christ, Ehre machen
und deinen Gegnern widerstehen können. Wie manche unnütze
Kleinigkeiten weiß ich mit Scharfsinn zu behandeln! Deine Liebe
gegen mich verdienet Nachsinnen und durchgedachtes Lob. Eröfne
mir demnach immer mehr und mehr die Augen, daß ich sehe die
Wunder an deinem Gesetz. Laß mich meine Abendandachten so
beschliessen, daß ich mit Warheit sagen könne:

Jch weiß, an wem ich glaube,
Und nahe mich im Staube
Zu dir, o Gott! mein Heil!
Jch bin der Schuld entladen,
Jch bin bei Gott in Gnaden,
Und in dem Himmel ist mein Theil.
Der
Der 20te Mai.

Schwierigkeiten ſinden ſich anfangs bei allen Dingen. Da
es aber noch immer gemeine Chriſten gibt, welche eine ſchoͤne und
gruͤndliche Kentniß unſrer Religion haben: ſo fallen dadurch alle
meine Ausfluͤchte weg. Zu geſchweigen, daß uns der heilige Geiſt
in alle Warheit leitet, wenn wir nur beten und in der Schrift
forſchen wollen. Der Einwurf: daß man doch die viele Chri-
ſten nicht verdammen koͤnne, welche, auf gut Gluͤck, ihrer Eltern
Religion annehmen, ohne jemals die Warheiten derſelben unterſucht
zu haben: dieſer Einwurf hebet doch unſre Verbindlichkeit nicht
auf, Gott von ganzer Seele, von ganzem Gemuͤthe und von
allen Kraͤften zu lieben; folglich auch mit Nachdenken und Ver-
ſtand! Und wird es nicht Grade der Seligkeit geben? Werden
nicht Lehrer, oder nachdenkende Chriſten, leuchten wie des Him-
melsglanz? und die, ſo viele zur Gerechtigkeit weiſen, ſolglich
wiſſen, an wen ſie glauben, wie die Sterne immer und ewiglich?

Herr Jeſu! deine Lehre iſt goͤttliche Weisheit: wie lieblos,
wenn ich ſie verſchmaͤhe! Du haſt mich berufen von der Finſter-
niß zum Lichte; das Schattenwerk des alten Teſtaments iſt ver-
gangen: ich muß dir, als ein erleuchteter Chriſt, Ehre machen
und deinen Gegnern widerſtehen koͤnnen. Wie manche unnuͤtze
Kleinigkeiten weiß ich mit Scharfſinn zu behandeln! Deine Liebe
gegen mich verdienet Nachſinnen und durchgedachtes Lob. Eroͤfne
mir demnach immer mehr und mehr die Augen, daß ich ſehe die
Wunder an deinem Geſetz. Laß mich meine Abendandachten ſo
beſchlieſſen, daß ich mit Warheit ſagen koͤnne:

Jch weiß, an wem ich glaube,
Und nahe mich im Staube
Zu dir, o Gott! mein Heil!
Jch bin der Schuld entladen,
Jch bin bei Gott in Gnaden,
Und in dem Himmel iſt mein Theil.
Der
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[292[322]/0329] Der 20te Mai. Schwierigkeiten ſinden ſich anfangs bei allen Dingen. Da es aber noch immer gemeine Chriſten gibt, welche eine ſchoͤne und gruͤndliche Kentniß unſrer Religion haben: ſo fallen dadurch alle meine Ausfluͤchte weg. Zu geſchweigen, daß uns der heilige Geiſt in alle Warheit leitet, wenn wir nur beten und in der Schrift forſchen wollen. Der Einwurf: daß man doch die viele Chri- ſten nicht verdammen koͤnne, welche, auf gut Gluͤck, ihrer Eltern Religion annehmen, ohne jemals die Warheiten derſelben unterſucht zu haben: dieſer Einwurf hebet doch unſre Verbindlichkeit nicht auf, Gott von ganzer Seele, von ganzem Gemuͤthe und von allen Kraͤften zu lieben; folglich auch mit Nachdenken und Ver- ſtand! Und wird es nicht Grade der Seligkeit geben? Werden nicht Lehrer, oder nachdenkende Chriſten, leuchten wie des Him- melsglanz? und die, ſo viele zur Gerechtigkeit weiſen, ſolglich wiſſen, an wen ſie glauben, wie die Sterne immer und ewiglich? Herr Jeſu! deine Lehre iſt goͤttliche Weisheit: wie lieblos, wenn ich ſie verſchmaͤhe! Du haſt mich berufen von der Finſter- niß zum Lichte; das Schattenwerk des alten Teſtaments iſt ver- gangen: ich muß dir, als ein erleuchteter Chriſt, Ehre machen und deinen Gegnern widerſtehen koͤnnen. Wie manche unnuͤtze Kleinigkeiten weiß ich mit Scharfſinn zu behandeln! Deine Liebe gegen mich verdienet Nachſinnen und durchgedachtes Lob. Eroͤfne mir demnach immer mehr und mehr die Augen, daß ich ſehe die Wunder an deinem Geſetz. Laß mich meine Abendandachten ſo beſchlieſſen, daß ich mit Warheit ſagen koͤnne: Jch weiß, an wem ich glaube, Und nahe mich im Staube Zu dir, o Gott! mein Heil! Jch bin der Schuld entladen, Jch bin bei Gott in Gnaden, Und in dem Himmel iſt mein Theil. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 292[322]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/329>, abgerufen am 22.11.2024.