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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 18te Mai.
Maaßregeln genommen, so bin ich ihnen preis gegeben. Die
Nacht ist niemands Freund; doch die Werke der Finsterniß be-
günstiget sie am meisten, und treibet sie oft noch höher, als ihre
Urheber sie zu treiben willens waren. Ein Dieb, der nur steh-
len wolte, wird, um nicht verrathen zu werden, leicht ein Mör-
der; und jeder Sünder, der auf bösen Wegen wandelt, wird
durch die Nacht dreister, und bei der geringsten Veranlassung ein
Ungeheuer. Noch mehr Gefahr: mein Körper brütet, bei ver-
mehrtem Umlaufe des Bluts, währenden Schlafs, sehr leicht
eine Krankheit aus. Der Keim zu meinem Tode kan in dieser
Nacht völlig in mir entwickelt werden, und ich erwache mit
schmerzhaftem Gefühl und umnebelten Gedanken! Meine Seele
endlich kan, wenn ich schlaflos mich auf meinem Lager umher
wende, auf Thorheiten verfallen, ungöttlichen Gedanken nach-
hängen, oder Entwürfe nachdenken, welche sündlich und mir
inskünftige ein Fallstrick sind. Schlafe ich aber, so wird sie vie-
leicht in schlüpfrigen Träumen gaukeln; Laster billigen, darüber
ich am Morgen erröthe; oder eine Jdee erzeugen, welche ich deim
Erwachen Gott abbitten und mit allen Kräften unterdrücken muß.

Und das ist alles nur noch ein kleiner Abriß aller Gefahren,
denen ich mich jetzt unterziehen will; denn wer kan alle mögliche
Unglücksfälle berechnen? Ein Mensch, der sich mit einem morschen
Nachen auf die hohe See wager, ist nicht verwegner, als ich es
wäre, wenn ich mich ohne göttlichen Beistand dem Schlafe über-
liefern wolte. Herr! hilf mir, oder ich verderbe! Sey mein
Schutz und Schirm, oder ich bin allen Gefahren der Nacht vogel-
frei! Laß mich jetzt behutsam meine Wohnung und mein Herz
verschliessen, damit kein Böses sich mir nahen dürfe. Soltest du
aber, nach aller meiner Vorsicht und Bitte, dennoch einen Un-
fall über mich verhängen, so weiß ich doch, daß das nur väter-
liche Züchtigung zu meinem Besten sey, und deine Beihülfe und
Trost mir nicht ermangeln werde.

Der

Der 18te Mai.
Maaßregeln genommen, ſo bin ich ihnen preis gegeben. Die
Nacht iſt niemands Freund; doch die Werke der Finſterniß be-
guͤnſtiget ſie am meiſten, und treibet ſie oft noch hoͤher, als ihre
Urheber ſie zu treiben willens waren. Ein Dieb, der nur ſteh-
len wolte, wird, um nicht verrathen zu werden, leicht ein Moͤr-
der; und jeder Suͤnder, der auf boͤſen Wegen wandelt, wird
durch die Nacht dreiſter, und bei der geringſten Veranlaſſung ein
Ungeheuer. Noch mehr Gefahr: mein Koͤrper bruͤtet, bei ver-
mehrtem Umlaufe des Bluts, waͤhrenden Schlafs, ſehr leicht
eine Krankheit aus. Der Keim zu meinem Tode kan in dieſer
Nacht voͤllig in mir entwickelt werden, und ich erwache mit
ſchmerzhaftem Gefuͤhl und umnebelten Gedanken! Meine Seele
endlich kan, wenn ich ſchlaflos mich auf meinem Lager umher
wende, auf Thorheiten verfallen, ungoͤttlichen Gedanken nach-
haͤngen, oder Entwuͤrfe nachdenken, welche ſuͤndlich und mir
inskuͤnftige ein Fallſtrick ſind. Schlafe ich aber, ſo wird ſie vie-
leicht in ſchluͤpfrigen Traͤumen gaukeln; Laſter billigen, daruͤber
ich am Morgen erroͤthe; oder eine Jdee erzeugen, welche ich deim
Erwachen Gott abbitten und mit allen Kraͤften unterdruͤcken muß.

Und das iſt alles nur noch ein kleiner Abriß aller Gefahren,
denen ich mich jetzt unterziehen will; denn wer kan alle moͤgliche
Ungluͤcksfaͤlle berechnen? Ein Menſch, der ſich mit einem morſchen
Nachen auf die hohe See wager, iſt nicht verwegner, als ich es
waͤre, wenn ich mich ohne goͤttlichen Beiſtand dem Schlafe uͤber-
liefern wolte. Herr! hilf mir, oder ich verderbe! Sey mein
Schutz und Schirm, oder ich bin allen Gefahren der Nacht vogel-
frei! Laß mich jetzt behutſam meine Wohnung und mein Herz
verſchlieſſen, damit kein Boͤſes ſich mir nahen duͤrfe. Solteſt du
aber, nach aller meiner Vorſicht und Bitte, dennoch einen Un-
fall uͤber mich verhaͤngen, ſo weiß ich doch, daß das nur vaͤter-
liche Zuͤchtigung zu meinem Beſten ſey, und deine Beihuͤlfe und
Troſt mir nicht ermangeln werde.

Der
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[288[318]/0325] Der 18te Mai. Maaßregeln genommen, ſo bin ich ihnen preis gegeben. Die Nacht iſt niemands Freund; doch die Werke der Finſterniß be- guͤnſtiget ſie am meiſten, und treibet ſie oft noch hoͤher, als ihre Urheber ſie zu treiben willens waren. Ein Dieb, der nur ſteh- len wolte, wird, um nicht verrathen zu werden, leicht ein Moͤr- der; und jeder Suͤnder, der auf boͤſen Wegen wandelt, wird durch die Nacht dreiſter, und bei der geringſten Veranlaſſung ein Ungeheuer. Noch mehr Gefahr: mein Koͤrper bruͤtet, bei ver- mehrtem Umlaufe des Bluts, waͤhrenden Schlafs, ſehr leicht eine Krankheit aus. Der Keim zu meinem Tode kan in dieſer Nacht voͤllig in mir entwickelt werden, und ich erwache mit ſchmerzhaftem Gefuͤhl und umnebelten Gedanken! Meine Seele endlich kan, wenn ich ſchlaflos mich auf meinem Lager umher wende, auf Thorheiten verfallen, ungoͤttlichen Gedanken nach- haͤngen, oder Entwuͤrfe nachdenken, welche ſuͤndlich und mir inskuͤnftige ein Fallſtrick ſind. Schlafe ich aber, ſo wird ſie vie- leicht in ſchluͤpfrigen Traͤumen gaukeln; Laſter billigen, daruͤber ich am Morgen erroͤthe; oder eine Jdee erzeugen, welche ich deim Erwachen Gott abbitten und mit allen Kraͤften unterdruͤcken muß. Und das iſt alles nur noch ein kleiner Abriß aller Gefahren, denen ich mich jetzt unterziehen will; denn wer kan alle moͤgliche Ungluͤcksfaͤlle berechnen? Ein Menſch, der ſich mit einem morſchen Nachen auf die hohe See wager, iſt nicht verwegner, als ich es waͤre, wenn ich mich ohne goͤttlichen Beiſtand dem Schlafe uͤber- liefern wolte. Herr! hilf mir, oder ich verderbe! Sey mein Schutz und Schirm, oder ich bin allen Gefahren der Nacht vogel- frei! Laß mich jetzt behutſam meine Wohnung und mein Herz verſchlieſſen, damit kein Boͤſes ſich mir nahen duͤrfe. Solteſt du aber, nach aller meiner Vorſicht und Bitte, dennoch einen Un- fall uͤber mich verhaͤngen, ſo weiß ich doch, daß das nur vaͤter- liche Zuͤchtigung zu meinem Beſten ſey, und deine Beihuͤlfe und Troſt mir nicht ermangeln werde. Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 288[318]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/325>, abgerufen am 25.11.2024.