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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 16te Mai.
Eigensinn und Empfindlichkeit verdrängt worden. Und dennoch
wandten sie den Reichthum noch wol am besten an; denn je mehr
Begierden und Kentniß der Welt: desto gefährlicher wird er.

Der größte Fehler am Reichthum ist, daß er uns den Weg
zum Himmel erschweret. Die da reich werden wollen, fallen in
Versuchung; und die es geworden sind, kommen meistens darin
um. Ach! der Mensch ist zu sinnlich, als daß er vielen Reizun-
gen zur Sünde ohne Gefahr entgegen gehen könnte. Er ermü-
det leicht auf seinem Pilgerwege: ist er noch mit vielen Schätzen
belastet, so setzt er seinen Weg immer langsamer fort. Die Er-
fahrung mag abermals reden. Ein Reicher, der sonst nicht be-
tete, werde arm; ein Armer hingegen, welcher fleißig betete, werde
reich: in den allermeisten Fällen wird es nun umgekehrt: nun
wird jener beten und dieser stumm seyn. Grosses Vermögen zie-
het künstliche Schmeichler heran, und diese ermahnen gewiß nicht
zur Tugend. Reichthum bahnet den Weg zu entzückenden Sün-
den; aber bald wird das Herz durch sie verdorben, wie der Ma-
gen durch reich besetzte Tafeln. Demut, Bruderliebe, Sanft-
mut, Geduld und andre ähnliche Tugenden kommen im dürren
Boden weit besser fort, als im fetten Lande. Und was hälfe es
dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und Scha-
den nähme an seiner Seele!

Da es also beim Reichthum so schwer ist, ins Reich Gottes
einzugehen: so will ich mich nimmer nach ihm sehnen. Gefiel es
aber dir, mein Gott! mich auf diese gefährliche Probe zu setzen:
ach! so erhalt mein Herz bei dem Einigen, daß ich deinen Na-
men fürchte. Jst es möglich, so gib mir weder Armut noch
Reichthum! Laß mich unter allen Umständen mein bescheidnes
Theil mit Danksagung annehmen. Gesundheit, ruhiges Gewis-
sen und ein sanfter Schlaf, um diese weit edlere Güter bitte ich
dich jetzt herzlich. Versag sie mir nicht, mein Gott! wenigstens
laß mich in Krankheit und schlaflosen Nächten reich an deiner
Gnade, und vermögend in deiner Kraft seyn!

Der

Der 16te Mai.
Eigenſinn und Empfindlichkeit verdraͤngt worden. Und dennoch
wandten ſie den Reichthum noch wol am beſten an; denn je mehr
Begierden und Kentniß der Welt: deſto gefaͤhrlicher wird er.

Der groͤßte Fehler am Reichthum iſt, daß er uns den Weg
zum Himmel erſchweret. Die da reich werden wollen, fallen in
Verſuchung; und die es geworden ſind, kommen meiſtens darin
um. Ach! der Menſch iſt zu ſinnlich, als daß er vielen Reizun-
gen zur Suͤnde ohne Gefahr entgegen gehen koͤnnte. Er ermuͤ-
det leicht auf ſeinem Pilgerwege: iſt er noch mit vielen Schaͤtzen
belaſtet, ſo ſetzt er ſeinen Weg immer langſamer fort. Die Er-
fahrung mag abermals reden. Ein Reicher, der ſonſt nicht be-
tete, werde arm; ein Armer hingegen, welcher fleißig betete, werde
reich: in den allermeiſten Faͤllen wird es nun umgekehrt: nun
wird jener beten und dieſer ſtumm ſeyn. Groſſes Vermoͤgen zie-
het kuͤnſtliche Schmeichler heran, und dieſe ermahnen gewiß nicht
zur Tugend. Reichthum bahnet den Weg zu entzuͤckenden Suͤn-
den; aber bald wird das Herz durch ſie verdorben, wie der Ma-
gen durch reich beſetzte Tafeln. Demut, Bruderliebe, Sanft-
mut, Geduld und andre aͤhnliche Tugenden kommen im duͤrren
Boden weit beſſer fort, als im fetten Lande. Und was haͤlfe es
dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und Scha-
den naͤhme an ſeiner Seele!

Da es alſo beim Reichthum ſo ſchwer iſt, ins Reich Gottes
einzugehen: ſo will ich mich nimmer nach ihm ſehnen. Gefiel es
aber dir, mein Gott! mich auf dieſe gefaͤhrliche Probe zu ſetzen:
ach! ſo erhalt mein Herz bei dem Einigen, daß ich deinen Na-
men fuͤrchte. Jſt es moͤglich, ſo gib mir weder Armut noch
Reichthum! Laß mich unter allen Umſtaͤnden mein beſcheidnes
Theil mit Dankſagung annehmen. Geſundheit, ruhiges Gewiſ-
ſen und ein ſanfter Schlaf, um dieſe weit edlere Guͤter bitte ich
dich jetzt herzlich. Verſag ſie mir nicht, mein Gott! wenigſtens
laß mich in Krankheit und ſchlafloſen Naͤchten reich an deiner
Gnade, und vermoͤgend in deiner Kraft ſeyn!

Der
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[284[314]/0321] Der 16te Mai. Eigenſinn und Empfindlichkeit verdraͤngt worden. Und dennoch wandten ſie den Reichthum noch wol am beſten an; denn je mehr Begierden und Kentniß der Welt: deſto gefaͤhrlicher wird er. Der groͤßte Fehler am Reichthum iſt, daß er uns den Weg zum Himmel erſchweret. Die da reich werden wollen, fallen in Verſuchung; und die es geworden ſind, kommen meiſtens darin um. Ach! der Menſch iſt zu ſinnlich, als daß er vielen Reizun- gen zur Suͤnde ohne Gefahr entgegen gehen koͤnnte. Er ermuͤ- det leicht auf ſeinem Pilgerwege: iſt er noch mit vielen Schaͤtzen belaſtet, ſo ſetzt er ſeinen Weg immer langſamer fort. Die Er- fahrung mag abermals reden. Ein Reicher, der ſonſt nicht be- tete, werde arm; ein Armer hingegen, welcher fleißig betete, werde reich: in den allermeiſten Faͤllen wird es nun umgekehrt: nun wird jener beten und dieſer ſtumm ſeyn. Groſſes Vermoͤgen zie- het kuͤnſtliche Schmeichler heran, und dieſe ermahnen gewiß nicht zur Tugend. Reichthum bahnet den Weg zu entzuͤckenden Suͤn- den; aber bald wird das Herz durch ſie verdorben, wie der Ma- gen durch reich beſetzte Tafeln. Demut, Bruderliebe, Sanft- mut, Geduld und andre aͤhnliche Tugenden kommen im duͤrren Boden weit beſſer fort, als im fetten Lande. Und was haͤlfe es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und Scha- den naͤhme an ſeiner Seele! Da es alſo beim Reichthum ſo ſchwer iſt, ins Reich Gottes einzugehen: ſo will ich mich nimmer nach ihm ſehnen. Gefiel es aber dir, mein Gott! mich auf dieſe gefaͤhrliche Probe zu ſetzen: ach! ſo erhalt mein Herz bei dem Einigen, daß ich deinen Na- men fuͤrchte. Jſt es moͤglich, ſo gib mir weder Armut noch Reichthum! Laß mich unter allen Umſtaͤnden mein beſcheidnes Theil mit Dankſagung annehmen. Geſundheit, ruhiges Gewiſ- ſen und ein ſanfter Schlaf, um dieſe weit edlere Guͤter bitte ich dich jetzt herzlich. Verſag ſie mir nicht, mein Gott! wenigſtens laß mich in Krankheit und ſchlafloſen Naͤchten reich an deiner Gnade, und vermoͤgend in deiner Kraft ſeyn! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 284[314]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/321>, abgerufen am 22.11.2024.