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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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zur ersten Auflage.
wahre Erbauung bei vielen Köpfen, die nicht mystisch den-
ken können, gar sehr aufgehalten. Noch jetzt werden jähr-
lich tausend Predigten über die Beschaffenheit der Wieder-
geburt, über die Art und Weise der geistlichen Vermäh-
lung u. s. w. gehalten. Ich weiß nicht, ob man mehr die
wortreiche Kunst des Redners, stundenlang über Geheim-
nisse zu deklamiren, oder die Geduld der Zuhörer bewun-
dern soll. Aber wehe den sinnlichern Menschen, den
schönen Geistern und hellern Köpfen in einer solchen Pre-
digt! Wenn uns jemand einen Sermon über die Art der
Vereinigung zwischen Leib und Seele zu halten verspräche,
so dächte ich meine Zeit besser anzuwenden, wenn ich ihm
nicht zuhörte. Was uns Gott nicht hat wissen lassen,
das mag ich von dir nicht hören.

Endlich kläret sich der Geschmack in der Theologie
auf. Man lieset nicht mehr Kollegienhefte von der Kanzel
ab, studirt nicht blos Dogmatik, sondern auch die Welt
und den Menschen. Die martialischen Gesellschafter,
welche man der Theologie bisher gegeben hatte, gaben ihr
selbst ein steifes Ansehn. Der arme Zuhörer litt am mei-
sten dabei, denn er konte nicht metaphysisch und mystisch
mitdenken. Aber gottlob! daß vernünftige Männer jene
angenehme und jedermann faßliche Wissenschaften wieder
mit herbeigerufen, und die Religion liebenswürdiger da-
durch gemacht haben. In England und in den Nieder-
landen waren Ray, Boyle, Derham, Nichol,
Nieuwentyt, Swammerdamm,
und andre, die
großten Wohlthäter der Theologie, und verknüpften die
Werke des Schöpfers mit seinem Worte, um eins durch
das andre zu erklären. Unter uns folgten ihren Fußtapfen
Schmidt, Scheuchzer, Zorn, Lesser, Sulzer,

Ahl-

zur erſten Auflage.
wahre Erbauung bei vielen Koͤpfen, die nicht myſtiſch den-
ken koͤnnen, gar ſehr aufgehalten. Noch jetzt werden jaͤhr-
lich tauſend Predigten uͤber die Beſchaffenheit der Wieder-
geburt, uͤber die Art und Weiſe der geiſtlichen Vermaͤh-
lung u. ſ. w. gehalten. Ich weiß nicht, ob man mehr die
wortreiche Kunſt des Redners, ſtundenlang uͤber Geheim-
niſſe zu deklamiren, oder die Geduld der Zuhoͤrer bewun-
dern ſoll. Aber wehe den ſinnlichern Menſchen, den
ſchoͤnen Geiſtern und hellern Koͤpfen in einer ſolchen Pre-
digt! Wenn uns jemand einen Sermon uͤber die Art der
Vereinigung zwiſchen Leib und Seele zu halten verſpraͤche,
ſo daͤchte ich meine Zeit beſſer anzuwenden, wenn ich ihm
nicht zuhoͤrte. Was uns Gott nicht hat wiſſen laſſen,
das mag ich von dir nicht hoͤren.

Endlich klaͤret ſich der Geſchmack in der Theologie
auf. Man lieſet nicht mehr Kollegienhefte von der Kanzel
ab, ſtudirt nicht blos Dogmatik, ſondern auch die Welt
und den Menſchen. Die martialiſchen Geſellſchafter,
welche man der Theologie bisher gegeben hatte, gaben ihr
ſelbſt ein ſteifes Anſehn. Der arme Zuhoͤrer litt am mei-
ſten dabei, denn er konte nicht metaphyſiſch und myſtiſch
mitdenken. Aber gottlob! daß vernuͤnftige Maͤnner jene
angenehme und jedermann faßliche Wiſſenſchaften wieder
mit herbeigerufen, und die Religion liebenswuͤrdiger da-
durch gemacht haben. In England und in den Nieder-
landen waren Ray, Boyle, Derham, Nichol,
Nieuwentyt, Swammerdamm,
und andre, die
großten Wohlthaͤter der Theologie, und verknuͤpften die
Werke des Schoͤpfers mit ſeinem Worte, um eins durch
das andre zu erklaͤren. Unter uns folgten ihren Fußtapfen
Schmidt, Scheuchzer, Zorn, Leſſer, Sulzer,

Ahl-
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[25/0032] zur erſten Auflage. wahre Erbauung bei vielen Koͤpfen, die nicht myſtiſch den- ken koͤnnen, gar ſehr aufgehalten. Noch jetzt werden jaͤhr- lich tauſend Predigten uͤber die Beſchaffenheit der Wieder- geburt, uͤber die Art und Weiſe der geiſtlichen Vermaͤh- lung u. ſ. w. gehalten. Ich weiß nicht, ob man mehr die wortreiche Kunſt des Redners, ſtundenlang uͤber Geheim- niſſe zu deklamiren, oder die Geduld der Zuhoͤrer bewun- dern ſoll. Aber wehe den ſinnlichern Menſchen, den ſchoͤnen Geiſtern und hellern Koͤpfen in einer ſolchen Pre- digt! Wenn uns jemand einen Sermon uͤber die Art der Vereinigung zwiſchen Leib und Seele zu halten verſpraͤche, ſo daͤchte ich meine Zeit beſſer anzuwenden, wenn ich ihm nicht zuhoͤrte. Was uns Gott nicht hat wiſſen laſſen, das mag ich von dir nicht hoͤren. Endlich klaͤret ſich der Geſchmack in der Theologie auf. Man lieſet nicht mehr Kollegienhefte von der Kanzel ab, ſtudirt nicht blos Dogmatik, ſondern auch die Welt und den Menſchen. Die martialiſchen Geſellſchafter, welche man der Theologie bisher gegeben hatte, gaben ihr ſelbſt ein ſteifes Anſehn. Der arme Zuhoͤrer litt am mei- ſten dabei, denn er konte nicht metaphyſiſch und myſtiſch mitdenken. Aber gottlob! daß vernuͤnftige Maͤnner jene angenehme und jedermann faßliche Wiſſenſchaften wieder mit herbeigerufen, und die Religion liebenswuͤrdiger da- durch gemacht haben. In England und in den Nieder- landen waren Ray, Boyle, Derham, Nichol, Nieuwentyt, Swammerdamm, und andre, die großten Wohlthaͤter der Theologie, und verknuͤpften die Werke des Schoͤpfers mit ſeinem Worte, um eins durch das andre zu erklaͤren. Unter uns folgten ihren Fußtapfen Schmidt, Scheuchzer, Zorn, Leſſer, Sulzer, Ahl-

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/32>, abgerufen am 24.11.2024.