Solt diese Nacht die letzte seyn Jn diesem Jammerthal: So führ mich, Herr! zum Himmel ein Zur Auserwählten Zahl!
Unter den Tausenden, welche der Herr des Lebens in dieser Nacht von hinnen fodert, sind gewiß auch Gesunde, welche man morgen mit Erstaunen todt auf ihrem Lager finden wird. Wie? wenn auch für mich diese Nacht vieleicht die letzte wäre! Unwahrscheinlich ist es, darin hast du, mein leichtsinniges Herz! recht. Aber es bleibet doch immer möglich, und das ist viel bei einer so wichtigen Sache, wo es auf Leben und Tod, auf Himmel und Hölle ankomt. Wer bei der größten Wahrschein- lichkeit zu leben, dennoch plötzlich stirbt: über wen darf sich der beschweren, wenn er unbereitet dahin fährt!
Und wenn ich mich vor Mördern, vor Feuer und Wassers- noth, kurz vor allen Lebensgefahren ausser mir schützen könte, so kenne ich doch meine Blutgefässe und überhaupt meinen Leib lange nicht genug, um meines Lebens bis morgen versichert zu seyn. Kein Leibarzt kan seinem Herrn für einen Schlag- oder Stickfluß Bürge seyn. Der Tod minirt beständig in unserm Körper; sel- ten sehen wir einmal danach, wie weit er wol mit seiner Arbeit gekommen seyn dürfte. Oefters ist es auch unmöglich, oder schon zu spät: und plötzlich springet die Mine auf. Ein stumpfer Kopfschmerz, eine kleine Uebelkeit sind bisweilen das Signal un- sers Todes. Wir trauen ihnen alsdann wie alten Bekanten zu viel, und wissen nicht, daß der Tod sich hinter ihnen verbirgt!
Diese
S 4
Der 14te Mai.
Solt dieſe Nacht die letzte ſeyn Jn dieſem Jammerthal: So fuͤhr mich, Herr! zum Himmel ein Zur Auserwaͤhlten Zahl!
Unter den Tauſenden, welche der Herr des Lebens in dieſer Nacht von hinnen fodert, ſind gewiß auch Geſunde, welche man morgen mit Erſtaunen todt auf ihrem Lager finden wird. Wie? wenn auch fuͤr mich dieſe Nacht vieleicht die letzte waͤre! Unwahrſcheinlich iſt es, darin haſt du, mein leichtſinniges Herz! recht. Aber es bleibet doch immer moͤglich, und das iſt viel bei einer ſo wichtigen Sache, wo es auf Leben und Tod, auf Himmel und Hoͤlle ankomt. Wer bei der groͤßten Wahrſchein- lichkeit zu leben, dennoch ploͤtzlich ſtirbt: uͤber wen darf ſich der beſchweren, wenn er unbereitet dahin faͤhrt!
Und wenn ich mich vor Moͤrdern, vor Feuer und Waſſers- noth, kurz vor allen Lebensgefahren auſſer mir ſchuͤtzen koͤnte, ſo kenne ich doch meine Blutgefaͤſſe und uͤberhaupt meinen Leib lange nicht genug, um meines Lebens bis morgen verſichert zu ſeyn. Kein Leibarzt kan ſeinem Herrn fuͤr einen Schlag- oder Stickfluß Buͤrge ſeyn. Der Tod minirt beſtaͤndig in unſerm Koͤrper; ſel- ten ſehen wir einmal danach, wie weit er wol mit ſeiner Arbeit gekommen ſeyn duͤrfte. Oefters iſt es auch unmoͤglich, oder ſchon zu ſpaͤt: und ploͤtzlich ſpringet die Mine auf. Ein ſtumpfer Kopfſchmerz, eine kleine Uebelkeit ſind bisweilen das Signal un- ſers Todes. Wir trauen ihnen alsdann wie alten Bekanten zu viel, und wiſſen nicht, daß der Tod ſich hinter ihnen verbirgt!
Dieſe
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[279[309]/0316]
Der 14te Mai.
Solt dieſe Nacht die letzte ſeyn
Jn dieſem Jammerthal:
So fuͤhr mich, Herr! zum Himmel ein
Zur Auserwaͤhlten Zahl!
Unter den Tauſenden, welche der Herr des Lebens in dieſer
Nacht von hinnen fodert, ſind gewiß auch Geſunde, welche
man morgen mit Erſtaunen todt auf ihrem Lager finden wird.
Wie? wenn auch fuͤr mich dieſe Nacht vieleicht die letzte
waͤre! Unwahrſcheinlich iſt es, darin haſt du, mein leichtſinniges
Herz! recht. Aber es bleibet doch immer moͤglich, und das iſt
viel bei einer ſo wichtigen Sache, wo es auf Leben und Tod, auf
Himmel und Hoͤlle ankomt. Wer bei der groͤßten Wahrſchein-
lichkeit zu leben, dennoch ploͤtzlich ſtirbt: uͤber wen darf ſich der
beſchweren, wenn er unbereitet dahin faͤhrt!
Und wenn ich mich vor Moͤrdern, vor Feuer und Waſſers-
noth, kurz vor allen Lebensgefahren auſſer mir ſchuͤtzen koͤnte, ſo
kenne ich doch meine Blutgefaͤſſe und uͤberhaupt meinen Leib lange
nicht genug, um meines Lebens bis morgen verſichert zu ſeyn.
Kein Leibarzt kan ſeinem Herrn fuͤr einen Schlag- oder Stickfluß
Buͤrge ſeyn. Der Tod minirt beſtaͤndig in unſerm Koͤrper; ſel-
ten ſehen wir einmal danach, wie weit er wol mit ſeiner Arbeit
gekommen ſeyn duͤrfte. Oefters iſt es auch unmoͤglich, oder
ſchon zu ſpaͤt: und ploͤtzlich ſpringet die Mine auf. Ein ſtumpfer
Kopfſchmerz, eine kleine Uebelkeit ſind bisweilen das Signal un-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 279[309]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/316>, abgerufen am 22.11.2024.
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