Je öfter wir mit dem Tode umgehen, desto mehr lernen wir ihm seine Schönheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen, daß er Opern versäumt, und lieber in Leichnamen wühlt: so muß es ja der Christ noch viel weiter bringen, und aus seinem Tode sich ein Gedankenfest machen können. Ekel und Zittern sind keine Eigenschaften grosser Menschen.
Unsre meisten Fehltritte entspringen daher, daß wir im Glü- cke übermüthig, im Unglück verzagt und in Versuchungen zu schwach sind. Denk an den Tod, so entgehest du diesen Schlin- gen. Der Grausamste höret auf zu schlagen, wenn er Todes- gestalt unter sich gewahr wird. Schwerverwundete müßten ver- zagen, wenn sie nicht der Tod tröstete; und in Gegenwart eines Leichnams verlöscht das unzüchtige Feuer der Augen. Erinnerung des Todes ist demnach Gegengift wider die Sünden. Und nun ist es leicht zu errathen, warum das leichtsinnige Herz mit Bit- ten oder Drohungen uns von Sterbegedanken zurückhält. Es verlöre seine Herrschaft über den Verstand, und der Mensch mag lieber fühlen als denken. Redet in einer lebhaften Gesellschaft von neuen Kleinigkeiten, von verborgnen Fehlern der Abwesenden, oder von erlognen Vorzügen der Anwesenden: man lächelt eurer gefälligen Lebensart von allen Seiten Beifall zu. Waget es aber, und sprecht von ihrer aller Tode, als ihrer wichtigsten Begeben- heit und ihrem größten Vorzuge, wofern sie zu sterben wissen: man erschrickt über euren Wahnwitz, und fliehet eure Gesellschaft wie Krankenbetten und Todesbetrachtungen.
Wohlthätiger Tod! du tritst mir mit diesem Abend einen Schritt näher. Jch kan zwar in der Dämmerung deinen Ab- stand von mir nicht recht unterscheiden. Vieleicht, wenn du dei- nen Arm ausstreckst, erreichest du mich schon. Es sey! Jch habe ja lange genug in der Welt geblühet: du kanst mich dem Him- mel nicht entführen, wenn du gleich die Erde vor mir aufgräbst. Jch bete herzlich, Jesus erhöret mich, und selig schlafe ich ein.
Der
Der 11te Mai.
Je oͤfter wir mit dem Tode umgehen, deſto mehr lernen wir ihm ſeine Schoͤnheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen, daß er Opern verſaͤumt, und lieber in Leichnamen wuͤhlt: ſo muß es ja der Chriſt noch viel weiter bringen, und aus ſeinem Tode ſich ein Gedankenfeſt machen koͤnnen. Ekel und Zittern ſind keine Eigenſchaften groſſer Menſchen.
Unſre meiſten Fehltritte entſpringen daher, daß wir im Gluͤ- cke uͤbermuͤthig, im Ungluͤck verzagt und in Verſuchungen zu ſchwach ſind. Denk an den Tod, ſo entgeheſt du dieſen Schlin- gen. Der Grauſamſte hoͤret auf zu ſchlagen, wenn er Todes- geſtalt unter ſich gewahr wird. Schwerverwundete muͤßten ver- zagen, wenn ſie nicht der Tod troͤſtete; und in Gegenwart eines Leichnams verloͤſcht das unzuͤchtige Feuer der Augen. Erinnerung des Todes iſt demnach Gegengift wider die Suͤnden. Und nun iſt es leicht zu errathen, warum das leichtſinnige Herz mit Bit- ten oder Drohungen uns von Sterbegedanken zuruͤckhaͤlt. Es verloͤre ſeine Herrſchaft uͤber den Verſtand, und der Menſch mag lieber fuͤhlen als denken. Redet in einer lebhaften Geſellſchaft von neuen Kleinigkeiten, von verborgnen Fehlern der Abweſenden, oder von erlognen Vorzuͤgen der Anweſenden: man laͤchelt eurer gefaͤlligen Lebensart von allen Seiten Beifall zu. Waget es aber, und ſprecht von ihrer aller Tode, als ihrer wichtigſten Begeben- heit und ihrem groͤßten Vorzuge, wofern ſie zu ſterben wiſſen: man erſchrickt uͤber euren Wahnwitz, und fliehet eure Geſellſchaft wie Krankenbetten und Todesbetrachtungen.
Wohlthaͤtiger Tod! du tritſt mir mit dieſem Abend einen Schritt naͤher. Jch kan zwar in der Daͤmmerung deinen Ab- ſtand von mir nicht recht unterſcheiden. Vieleicht, wenn du dei- nen Arm ausſtreckſt, erreicheſt du mich ſchon. Es ſey! Jch habe ja lange genug in der Welt gebluͤhet: du kanſt mich dem Him- mel nicht entfuͤhren, wenn du gleich die Erde vor mir aufgraͤbſt. Jch bete herzlich, Jeſus erhoͤret mich, und ſelig ſchlafe ich ein.
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0311"n="274[304]"/><fwplace="top"type="header">Der 11<hirendition="#sup">te</hi> Mai.</fw><lb/>
Je oͤfter wir mit dem Tode umgehen, deſto mehr lernen wir ihm<lb/>ſeine Schoͤnheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen,<lb/>
daß er Opern verſaͤumt, und lieber in Leichnamen wuͤhlt: ſo muß<lb/>
es ja der Chriſt noch viel weiter bringen, und aus ſeinem Tode<lb/>ſich ein Gedankenfeſt machen koͤnnen. Ekel und Zittern ſind keine<lb/>
Eigenſchaften groſſer Menſchen.</p><lb/><p>Unſre meiſten Fehltritte entſpringen daher, daß wir im Gluͤ-<lb/>
cke uͤbermuͤthig, im Ungluͤck verzagt und in Verſuchungen zu<lb/>ſchwach ſind. Denk an den Tod, ſo entgeheſt du dieſen Schlin-<lb/>
gen. Der Grauſamſte hoͤret auf zu ſchlagen, wenn er Todes-<lb/>
geſtalt unter ſich gewahr wird. Schwerverwundete muͤßten ver-<lb/>
zagen, wenn ſie nicht der Tod troͤſtete; und in Gegenwart eines<lb/>
Leichnams verloͤſcht das unzuͤchtige Feuer der Augen. Erinnerung<lb/>
des Todes iſt demnach Gegengift wider die Suͤnden. Und nun<lb/>
iſt es leicht zu errathen, warum das leichtſinnige Herz mit Bit-<lb/>
ten oder Drohungen uns von Sterbegedanken zuruͤckhaͤlt. Es<lb/>
verloͤre ſeine Herrſchaft uͤber den Verſtand, und der Menſch mag<lb/>
lieber fuͤhlen als denken. Redet in einer lebhaften Geſellſchaft von<lb/>
neuen Kleinigkeiten, von verborgnen Fehlern der Abweſenden,<lb/>
oder von erlognen Vorzuͤgen der Anweſenden: man laͤchelt eurer<lb/>
gefaͤlligen Lebensart von allen Seiten Beifall zu. Waget es aber,<lb/>
und ſprecht von ihrer aller Tode, als ihrer wichtigſten Begeben-<lb/>
heit und ihrem groͤßten Vorzuge, wofern ſie zu ſterben wiſſen:<lb/>
man erſchrickt uͤber euren Wahnwitz, und fliehet eure Geſellſchaft<lb/>
wie Krankenbetten und Todesbetrachtungen.</p><lb/><p>Wohlthaͤtiger Tod! du tritſt mir mit dieſem Abend einen<lb/>
Schritt naͤher. Jch kan zwar in der Daͤmmerung deinen Ab-<lb/>ſtand von mir nicht recht unterſcheiden. Vieleicht, wenn du dei-<lb/>
nen Arm ausſtreckſt, erreicheſt du mich ſchon. Es ſey! Jch habe<lb/>
ja lange genug in der Welt gebluͤhet: du kanſt mich dem Him-<lb/>
mel nicht entfuͤhren, wenn du gleich die Erde vor mir aufgraͤbſt.<lb/>
Jch bete herzlich, Jeſus erhoͤret mich, und ſelig ſchlafe ich ein.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[274[304]/0311]
Der 11te Mai.
Je oͤfter wir mit dem Tode umgehen, deſto mehr lernen wir ihm
ſeine Schoͤnheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen,
daß er Opern verſaͤumt, und lieber in Leichnamen wuͤhlt: ſo muß
es ja der Chriſt noch viel weiter bringen, und aus ſeinem Tode
ſich ein Gedankenfeſt machen koͤnnen. Ekel und Zittern ſind keine
Eigenſchaften groſſer Menſchen.
Unſre meiſten Fehltritte entſpringen daher, daß wir im Gluͤ-
cke uͤbermuͤthig, im Ungluͤck verzagt und in Verſuchungen zu
ſchwach ſind. Denk an den Tod, ſo entgeheſt du dieſen Schlin-
gen. Der Grauſamſte hoͤret auf zu ſchlagen, wenn er Todes-
geſtalt unter ſich gewahr wird. Schwerverwundete muͤßten ver-
zagen, wenn ſie nicht der Tod troͤſtete; und in Gegenwart eines
Leichnams verloͤſcht das unzuͤchtige Feuer der Augen. Erinnerung
des Todes iſt demnach Gegengift wider die Suͤnden. Und nun
iſt es leicht zu errathen, warum das leichtſinnige Herz mit Bit-
ten oder Drohungen uns von Sterbegedanken zuruͤckhaͤlt. Es
verloͤre ſeine Herrſchaft uͤber den Verſtand, und der Menſch mag
lieber fuͤhlen als denken. Redet in einer lebhaften Geſellſchaft von
neuen Kleinigkeiten, von verborgnen Fehlern der Abweſenden,
oder von erlognen Vorzuͤgen der Anweſenden: man laͤchelt eurer
gefaͤlligen Lebensart von allen Seiten Beifall zu. Waget es aber,
und ſprecht von ihrer aller Tode, als ihrer wichtigſten Begeben-
heit und ihrem groͤßten Vorzuge, wofern ſie zu ſterben wiſſen:
man erſchrickt uͤber euren Wahnwitz, und fliehet eure Geſellſchaft
wie Krankenbetten und Todesbetrachtungen.
Wohlthaͤtiger Tod! du tritſt mir mit dieſem Abend einen
Schritt naͤher. Jch kan zwar in der Daͤmmerung deinen Ab-
ſtand von mir nicht recht unterſcheiden. Vieleicht, wenn du dei-
nen Arm ausſtreckſt, erreicheſt du mich ſchon. Es ſey! Jch habe
ja lange genug in der Welt gebluͤhet: du kanſt mich dem Him-
mel nicht entfuͤhren, wenn du gleich die Erde vor mir aufgraͤbſt.
Jch bete herzlich, Jeſus erhoͤret mich, und ſelig ſchlafe ich ein.
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 274[304]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/311>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.