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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 1te Mai.
der Nachtigall. Aber Süuder! verstehest du sie auch? Sie
klaget in girrenden Tönen über deinen Kaltsinn gegen Gott, und
dann schmettert sie dir in feurigen Schlägen vor, wie brünstig
du deinen Schöpfer erheben soltest.

Kein Monat im Jahr liefert so viele unumstößliche Beweise
der Liebe Gottes gegen uns, als der jetzige. Tausendfach schat-
tirte Blumen, deren Schmelz und Kolorit unnachahmlich ist;
die ganze Atmosphäre voll Wohlgerüche; das schönste neue Grün,
worin Wald und Erde gekleidet sind; das Hüpfen und das ver-
mischte Freudengeschrei der Thiere in Feldern und Wiesen; son-
derlich aber die laute wirbelnde Harmonie der Vögel; ach! Mensch,
fall mit mir nieder, und bet die Güte unsers Vaters an! Jst das
alles nicht Güte? Bedenk doch, wir könten und müßten leben
ohne alles das! Ohne Blumen wär es genug an Wermuth,
Nesseln und einigen andern Heilkräutern; die Baumblüte könte
ohne allen Geruch seyn; statt der unsern Augen so zuträglichen
grünen Farbe, könte blendendes Roth, oder ekles Schwarzgrau
die Farbe der Saten und Blätter seyn; Vögel könten stumm seyn,
wie einige unter ihnen zu unsrer Erinnerung auch sind; oder
Nachtigallen könten ja schreien wie der Pfau, Lerche zischen wie
die Eule, und die Wachteln heulen wie der Uhu. Und wozu
bedurfte es des Obstes?

So war denn das alles mit zu meinem Vergnügen besorgt?
Jch soll nicht nur leben, sondern auch frölich leben? Jch Rebell
und Dankvergeßner soll das? Ach! mein Gott! ich schäme mich
innigst meiner Fühlossigkeit, und freue mich zugleich, daß ich mich
noch schämen mag. Sey groß, mein Herz! und werde klein vor
deinem Gott! Jeder Sinn ladet dich in diesem Monat ein, Gott
über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen.
Fühl dein Glück in dieser schönen Jahrszeit, und schließ vom klei-
nen aufs grosse. Jst die Erde so schön, was wird nicht der Him-
mel seyn! Jene wäre gewiß nicht so reizend, wenn dir Gott die-
sen nicht geben wolte.

Der

Der 1te Mai.
der Nachtigall. Aber Suͤuder! verſteheſt du ſie auch? Sie
klaget in girrenden Toͤnen uͤber deinen Kaltſinn gegen Gott, und
dann ſchmettert ſie dir in feurigen Schlaͤgen vor, wie bruͤnſtig
du deinen Schoͤpfer erheben ſolteſt.

Kein Monat im Jahr liefert ſo viele unumſtoͤßliche Beweiſe
der Liebe Gottes gegen uns, als der jetzige. Tauſendfach ſchat-
tirte Blumen, deren Schmelz und Kolorit unnachahmlich iſt;
die ganze Atmoſphaͤre voll Wohlgeruͤche; das ſchoͤnſte neue Gruͤn,
worin Wald und Erde gekleidet ſind; das Huͤpfen und das ver-
miſchte Freudengeſchrei der Thiere in Feldern und Wieſen; ſon-
derlich aber die laute wirbelnde Harmonie der Voͤgel; ach! Menſch,
fall mit mir nieder, und bet die Guͤte unſers Vaters an! Jſt das
alles nicht Guͤte? Bedenk doch, wir koͤnten und muͤßten leben
ohne alles das! Ohne Blumen waͤr es genug an Wermuth,
Neſſeln und einigen andern Heilkraͤutern; die Baumbluͤte koͤnte
ohne allen Geruch ſeyn; ſtatt der unſern Augen ſo zutraͤglichen
gruͤnen Farbe, koͤnte blendendes Roth, oder ekles Schwarzgrau
die Farbe der Saten und Blaͤtter ſeyn; Voͤgel koͤnten ſtumm ſeyn,
wie einige unter ihnen zu unſrer Erinnerung auch ſind; oder
Nachtigallen koͤnten ja ſchreien wie der Pfau, Lerche ziſchen wie
die Eule, und die Wachteln heulen wie der Uhu. Und wozu
bedurfte es des Obſtes?

So war denn das alles mit zu meinem Vergnuͤgen beſorgt?
Jch ſoll nicht nur leben, ſondern auch froͤlich leben? Jch Rebell
und Dankvergeßner ſoll das? Ach! mein Gott! ich ſchaͤme mich
innigſt meiner Fuͤhloſſigkeit, und freue mich zugleich, daß ich mich
noch ſchaͤmen mag. Sey groß, mein Herz! und werde klein vor
deinem Gott! Jeder Sinn ladet dich in dieſem Monat ein, Gott
uͤber alle Dinge zu fuͤrchten, zu lieben und ihm zu vertrauen.
Fuͤhl dein Gluͤck in dieſer ſchoͤnen Jahrszeit, und ſchließ vom klei-
nen aufs groſſe. Jſt die Erde ſo ſchoͤn, was wird nicht der Him-
mel ſeyn! Jene waͤre gewiß nicht ſo reizend, wenn dir Gott die-
ſen nicht geben wolte.

Der
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[254[284]/0291] Der 1te Mai. der Nachtigall. Aber Suͤuder! verſteheſt du ſie auch? Sie klaget in girrenden Toͤnen uͤber deinen Kaltſinn gegen Gott, und dann ſchmettert ſie dir in feurigen Schlaͤgen vor, wie bruͤnſtig du deinen Schoͤpfer erheben ſolteſt. Kein Monat im Jahr liefert ſo viele unumſtoͤßliche Beweiſe der Liebe Gottes gegen uns, als der jetzige. Tauſendfach ſchat- tirte Blumen, deren Schmelz und Kolorit unnachahmlich iſt; die ganze Atmoſphaͤre voll Wohlgeruͤche; das ſchoͤnſte neue Gruͤn, worin Wald und Erde gekleidet ſind; das Huͤpfen und das ver- miſchte Freudengeſchrei der Thiere in Feldern und Wieſen; ſon- derlich aber die laute wirbelnde Harmonie der Voͤgel; ach! Menſch, fall mit mir nieder, und bet die Guͤte unſers Vaters an! Jſt das alles nicht Guͤte? Bedenk doch, wir koͤnten und muͤßten leben ohne alles das! Ohne Blumen waͤr es genug an Wermuth, Neſſeln und einigen andern Heilkraͤutern; die Baumbluͤte koͤnte ohne allen Geruch ſeyn; ſtatt der unſern Augen ſo zutraͤglichen gruͤnen Farbe, koͤnte blendendes Roth, oder ekles Schwarzgrau die Farbe der Saten und Blaͤtter ſeyn; Voͤgel koͤnten ſtumm ſeyn, wie einige unter ihnen zu unſrer Erinnerung auch ſind; oder Nachtigallen koͤnten ja ſchreien wie der Pfau, Lerche ziſchen wie die Eule, und die Wachteln heulen wie der Uhu. Und wozu bedurfte es des Obſtes? So war denn das alles mit zu meinem Vergnuͤgen beſorgt? Jch ſoll nicht nur leben, ſondern auch froͤlich leben? Jch Rebell und Dankvergeßner ſoll das? Ach! mein Gott! ich ſchaͤme mich innigſt meiner Fuͤhloſſigkeit, und freue mich zugleich, daß ich mich noch ſchaͤmen mag. Sey groß, mein Herz! und werde klein vor deinem Gott! Jeder Sinn ladet dich in dieſem Monat ein, Gott uͤber alle Dinge zu fuͤrchten, zu lieben und ihm zu vertrauen. Fuͤhl dein Gluͤck in dieſer ſchoͤnen Jahrszeit, und ſchließ vom klei- nen aufs groſſe. Jſt die Erde ſo ſchoͤn, was wird nicht der Him- mel ſeyn! Jene waͤre gewiß nicht ſo reizend, wenn dir Gott die- ſen nicht geben wolte. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 254[284]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/291>, abgerufen am 24.11.2024.