Bettler klagen mich an, daß ich sie schnöde von mir hinwegwies; Feinde werfen mir meine Unversöhnlichkeit, und Freunde meinen Eigensinn vor! Fast so viele Menschen und Thiere sich mir näher- ten, so viele seufzten auch wider mich! Und dort, wo der Sohn wider den Vater zeuget, dort legten vieleicht meine Eltern (ich schaudre!) ein Zeugniß wider mich ab! Jedoch, wenn ich auch alle diese Ankläger betäuben und überstimmen könte: so schreiet doch das Blut Jesu, und mein Kaltsinn gegen dich, mein unbe- greiflich gütiger Vater! -- Himmel und Erde klagen mich an, und ich müßte verzweifeln, wäre ich nicht ein Christ! Verloren wie ein ertappter Vatermörder, ewig verloren bin ich, meines mir anvertrauten Pfundes wegen; wenn Jesus mich nicht mit- dachte, als er hoherpriesterlich ausrief: Vater, vergib ihnen!
Ach! tödtet mich lieber auf ewig, als daß ihr mir den Trost, den einzigen Trost vernünftiger Sünder nehmen wolt! Nein! es ist je gewißlich wahr, und ein theures werthes Wort, daß Jesus Christus in die Welt kommen ist, die Sünder selig zu ma- chen, unter welchen ich der vornehmste oder größte bin! Ja! ich bin es; denn andre kan und darf ich nicht richten. Kan aber ein reuvolles Herz, ein redlicher Unwille mit sich selbst; kan zuver- sichtliches Gebet dich erweichen: o! so erhör mich, du Sünden- tilger! und vergib, wie du vom Kreuze herab deinen Feinden vergabst! Zwar schon sehr öfters that ich diese Bitte an dich, und du gewährtest mir derselben. Jst es nicht unverschämt, tagtäg- lich meinen mit dir errichteten Bund zu brechen? Ach! könte ich doch von nun an blos dankend und als dein Freund vor dich tre- ten! Hat mein Herz noch heimliche Abwege, und gehöret es dir noch nicht ganz: o! so verdopple deine Gnadenarbeit an dasselbe: Herr! ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Laß mich nicht aufhören zu beten, ehe ich nicht von meiner Rechtschaffenheit überzeugt bin! Und laß mich von nun an so wandeln, als ob jeder Tag der letzte meines Lebens wäre!
Der
Der 28te April.
Bettler klagen mich an, daß ich ſie ſchnoͤde von mir hinwegwies; Feinde werfen mir meine Unverſoͤhnlichkeit, und Freunde meinen Eigenſinn vor! Faſt ſo viele Menſchen und Thiere ſich mir naͤher- ten, ſo viele ſeufzten auch wider mich! Und dort, wo der Sohn wider den Vater zeuget, dort legten vieleicht meine Eltern (ich ſchaudre!) ein Zeugniß wider mich ab! Jedoch, wenn ich auch alle dieſe Anklaͤger betaͤuben und uͤberſtimmen koͤnte: ſo ſchreiet doch das Blut Jeſu, und mein Kaltſinn gegen dich, mein unbe- greiflich guͤtiger Vater! — Himmel und Erde klagen mich an, und ich muͤßte verzweifeln, waͤre ich nicht ein Chriſt! Verloren wie ein ertappter Vatermoͤrder, ewig verloren bin ich, meines mir anvertrauten Pfundes wegen; wenn Jeſus mich nicht mit- dachte, als er hoherprieſterlich ausrief: Vater, vergib ihnen!
Ach! toͤdtet mich lieber auf ewig, als daß ihr mir den Troſt, den einzigen Troſt vernuͤnftiger Suͤnder nehmen wolt! Nein! es iſt je gewißlich wahr, und ein theures werthes Wort, daß Jeſus Chriſtus in die Welt kommen iſt, die Suͤnder ſelig zu ma- chen, unter welchen ich der vornehmſte oder groͤßte bin! Ja! ich bin es; denn andre kan und darf ich nicht richten. Kan aber ein reuvolles Herz, ein redlicher Unwille mit ſich ſelbſt; kan zuver- ſichtliches Gebet dich erweichen: o! ſo erhoͤr mich, du Suͤnden- tilger! und vergib, wie du vom Kreuze herab deinen Feinden vergabſt! Zwar ſchon ſehr oͤfters that ich dieſe Bitte an dich, und du gewaͤhrteſt mir derſelben. Jſt es nicht unverſchaͤmt, tagtaͤg- lich meinen mit dir errichteten Bund zu brechen? Ach! koͤnte ich doch von nun an blos dankend und als dein Freund vor dich tre- ten! Hat mein Herz noch heimliche Abwege, und gehoͤret es dir noch nicht ganz: o! ſo verdopple deine Gnadenarbeit an daſſelbe: Herr! ich laſſe dich nicht, du ſegneſt mich denn! Laß mich nicht aufhoͤren zu beten, ehe ich nicht von meiner Rechtſchaffenheit uͤberzeugt bin! Und laß mich von nun an ſo wandeln, als ob jeder Tag der letzte meines Lebens waͤre!
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[246[276]/0283]
Der 28te April.
Bettler klagen mich an, daß ich ſie ſchnoͤde von mir hinwegwies;
Feinde werfen mir meine Unverſoͤhnlichkeit, und Freunde meinen
Eigenſinn vor! Faſt ſo viele Menſchen und Thiere ſich mir naͤher-
ten, ſo viele ſeufzten auch wider mich! Und dort, wo der Sohn
wider den Vater zeuget, dort legten vieleicht meine Eltern (ich
ſchaudre!) ein Zeugniß wider mich ab! Jedoch, wenn ich auch
alle dieſe Anklaͤger betaͤuben und uͤberſtimmen koͤnte: ſo ſchreiet
doch das Blut Jeſu, und mein Kaltſinn gegen dich, mein unbe-
greiflich guͤtiger Vater! — Himmel und Erde klagen mich an,
und ich muͤßte verzweifeln, waͤre ich nicht ein Chriſt! Verloren
wie ein ertappter Vatermoͤrder, ewig verloren bin ich, meines
mir anvertrauten Pfundes wegen; wenn Jeſus mich nicht mit-
dachte, als er hoherprieſterlich ausrief: Vater, vergib ihnen!
Ach! toͤdtet mich lieber auf ewig, als daß ihr mir den Troſt,
den einzigen Troſt vernuͤnftiger Suͤnder nehmen wolt! Nein!
es iſt je gewißlich wahr, und ein theures werthes Wort, daß
Jeſus Chriſtus in die Welt kommen iſt, die Suͤnder ſelig zu ma-
chen, unter welchen ich der vornehmſte oder groͤßte bin! Ja! ich
bin es; denn andre kan und darf ich nicht richten. Kan aber ein
reuvolles Herz, ein redlicher Unwille mit ſich ſelbſt; kan zuver-
ſichtliches Gebet dich erweichen: o! ſo erhoͤr mich, du Suͤnden-
tilger! und vergib, wie du vom Kreuze herab deinen Feinden
vergabſt! Zwar ſchon ſehr oͤfters that ich dieſe Bitte an dich, und
du gewaͤhrteſt mir derſelben. Jſt es nicht unverſchaͤmt, tagtaͤg-
lich meinen mit dir errichteten Bund zu brechen? Ach! koͤnte ich
doch von nun an blos dankend und als dein Freund vor dich tre-
ten! Hat mein Herz noch heimliche Abwege, und gehoͤret es dir
noch nicht ganz: o! ſo verdopple deine Gnadenarbeit an daſſelbe:
Herr! ich laſſe dich nicht, du ſegneſt mich denn! Laß mich nicht
aufhoͤren zu beten, ehe ich nicht von meiner Rechtſchaffenheit
uͤberzeugt bin! Und laß mich von nun an ſo wandeln, als ob jeder
Tag der letzte meines Lebens waͤre!
Der
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 246[276]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/283>, abgerufen am 16.02.2025.
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