daher ein wahres Unglück, daß unsre meisten Theologen entweder für ihre Fakultät, oder für den Pöbel schreiben. Der Mittelstand zwischen beiden wird zu sehr in Schriften und auf der Kanzel vernachläßiget.
Die Erbauung ist eine delikate Sache. Unter zehn unsrer alten Erbauungsschriften sind gewiß neune, welche für gewisse Leser höchst unerbaulich, für andre anstößig und für einige gar lächerlich sind. Woher mag das kom- men? An den Wahrheiten der heil. Schrift selbst kan es unmöglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein- kleidung derselben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent- wurf einer Geschichte des erbaulichen Vortrags. Vorher will ich nur folgendes bemerken:
Entweder will man uns die Religionswarheiten als gewiß, oder als annehmungswürdig vorstellen. Beides findet bei der Glaubens- und Tugendlehre statt. Ein Theologe, der die Religion blos beweisen und erklären will, muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und vorzüglich verknüpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her- menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um sie zu vertheidigen, übt er sich in der Polemik, (geistlichen Disputirkunst) folglich auch in der Logik oder Dialektik (Vernunftlehre) und Metaphysik (Grundwissenschaft). Dis sind die ihm nöthigste Wissenschaften. Es verstehet sich von selbst, daß andre ihm auch mehr oder weniger nützlich sind. Will aber ein Theologe seine vorzutragende Warheiten nicht eben von der gründlichen, sondern prakti- schen und nützlichen Seite zeigen: so wird er hauptsächlich die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um sie liebens- würdig darzustellen, wird er sie in Verbindung mit solchen
Wissen-
b 3
zur erſten Auflage.
daher ein wahres Ungluͤck, daß unſre meiſten Theologen entweder fuͤr ihre Fakultaͤt, oder fuͤr den Poͤbel ſchreiben. Der Mittelſtand zwiſchen beiden wird zu ſehr in Schriften und auf der Kanzel vernachlaͤßiget.
Die Erbauung iſt eine delikate Sache. Unter zehn unſrer alten Erbauungsſchriften ſind gewiß neune, welche fuͤr gewiſſe Leſer hoͤchſt unerbaulich, fuͤr andre anſtoͤßig und fuͤr einige gar laͤcherlich ſind. Woher mag das kom- men? An den Wahrheiten der heil. Schrift ſelbſt kan es unmoͤglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein- kleidung derſelben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent- wurf einer Geſchichte des erbaulichen Vortrags. Vorher will ich nur folgendes bemerken:
Entweder will man uns die Religionswarheiten als gewiß, oder als annehmungswuͤrdig vorſtellen. Beides findet bei der Glaubens- und Tugendlehre ſtatt. Ein Theologe, der die Religion blos beweiſen und erklaͤren will, muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und vorzuͤglich verknuͤpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her- menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um ſie zu vertheidigen, uͤbt er ſich in der Polemik, (geiſtlichen Diſputirkunſt) folglich auch in der Logik oder Dialektik (Vernunftlehre) und Metaphyſik (Grundwiſſenſchaft). Dis ſind die ihm noͤthigſte Wiſſenſchaften. Es verſtehet ſich von ſelbſt, daß andre ihm auch mehr oder weniger nuͤtzlich ſind. Will aber ein Theologe ſeine vorzutragende Warheiten nicht eben von der gruͤndlichen, ſondern prakti- ſchen und nuͤtzlichen Seite zeigen: ſo wird er hauptſaͤchlich die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um ſie liebens- wuͤrdig darzuſtellen, wird er ſie in Verbindung mit ſolchen
Wiſſen-
b 3
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0026"n="19"/><fwplace="top"type="header">zur erſten Auflage.</fw><lb/>
daher ein wahres Ungluͤck, daß unſre meiſten Theologen<lb/>
entweder fuͤr ihre Fakultaͤt, oder fuͤr den Poͤbel ſchreiben.<lb/>
Der Mittelſtand zwiſchen beiden wird zu ſehr in Schriften<lb/>
und auf der Kanzel vernachlaͤßiget.</p><lb/><p>Die Erbauung iſt eine delikate Sache. Unter zehn<lb/>
unſrer alten Erbauungsſchriften ſind gewiß neune, welche<lb/>
fuͤr gewiſſe Leſer hoͤchſt unerbaulich, fuͤr andre anſtoͤßig<lb/>
und fuͤr einige gar laͤcherlich ſind. Woher mag das kom-<lb/>
men? An den Wahrheiten der heil. Schrift ſelbſt kan es<lb/>
unmoͤglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein-<lb/>
kleidung derſelben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent-<lb/>
wurf einer Geſchichte des erbaulichen Vortrags. Vorher<lb/>
will ich nur folgendes bemerken:</p><lb/><p>Entweder will man uns die Religionswarheiten als<lb/>
gewiß, oder als annehmungswuͤrdig vorſtellen. Beides<lb/>
findet bei der Glaubens- und Tugendlehre ſtatt. Ein<lb/>
Theologe, der die Religion blos beweiſen und erklaͤren will,<lb/>
muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und<lb/>
vorzuͤglich verknuͤpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her-<lb/>
menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um ſie<lb/>
zu vertheidigen, uͤbt er ſich in der Polemik, (geiſtlichen<lb/>
Diſputirkunſt) folglich auch in der Logik oder Dialektik<lb/>
(Vernunftlehre) und Metaphyſik (Grundwiſſenſchaft).<lb/>
Dis ſind die ihm noͤthigſte Wiſſenſchaften. Es verſtehet<lb/>ſich von ſelbſt, daß andre ihm auch mehr oder weniger<lb/>
nuͤtzlich ſind. Will aber ein Theologe ſeine vorzutragende<lb/>
Warheiten nicht eben von der gruͤndlichen, ſondern prakti-<lb/>ſchen und nuͤtzlichen Seite zeigen: ſo wird er hauptſaͤchlich<lb/>
die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um ſie liebens-<lb/>
wuͤrdig darzuſtellen, wird er ſie in Verbindung mit ſolchen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">b 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Wiſſen-</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[19/0026]
zur erſten Auflage.
daher ein wahres Ungluͤck, daß unſre meiſten Theologen
entweder fuͤr ihre Fakultaͤt, oder fuͤr den Poͤbel ſchreiben.
Der Mittelſtand zwiſchen beiden wird zu ſehr in Schriften
und auf der Kanzel vernachlaͤßiget.
Die Erbauung iſt eine delikate Sache. Unter zehn
unſrer alten Erbauungsſchriften ſind gewiß neune, welche
fuͤr gewiſſe Leſer hoͤchſt unerbaulich, fuͤr andre anſtoͤßig
und fuͤr einige gar laͤcherlich ſind. Woher mag das kom-
men? An den Wahrheiten der heil. Schrift ſelbſt kan es
unmoͤglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein-
kleidung derſelben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent-
wurf einer Geſchichte des erbaulichen Vortrags. Vorher
will ich nur folgendes bemerken:
Entweder will man uns die Religionswarheiten als
gewiß, oder als annehmungswuͤrdig vorſtellen. Beides
findet bei der Glaubens- und Tugendlehre ſtatt. Ein
Theologe, der die Religion blos beweiſen und erklaͤren will,
muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und
vorzuͤglich verknuͤpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her-
menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um ſie
zu vertheidigen, uͤbt er ſich in der Polemik, (geiſtlichen
Diſputirkunſt) folglich auch in der Logik oder Dialektik
(Vernunftlehre) und Metaphyſik (Grundwiſſenſchaft).
Dis ſind die ihm noͤthigſte Wiſſenſchaften. Es verſtehet
ſich von ſelbſt, daß andre ihm auch mehr oder weniger
nuͤtzlich ſind. Will aber ein Theologe ſeine vorzutragende
Warheiten nicht eben von der gruͤndlichen, ſondern prakti-
ſchen und nuͤtzlichen Seite zeigen: ſo wird er hauptſaͤchlich
die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um ſie liebens-
wuͤrdig darzuſtellen, wird er ſie in Verbindung mit ſolchen
Wiſſen-
b 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/26>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.