Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 14te April. Einige kan ich nicht näher kennen lernen, denn sie sind -- inder Hölle. Und welche unerwartete Ahnen! Die meisten waren Juden oder Heiden, und durch sie sehe ich mich mit Völkern ver- wandt, deren Namen ich kaum gehöret hatte! Tretet denn nä- her, meine würdige Vorfahren! und nehmet mich in eure bimli- sche Gesellschaft auf. Ach! wie solte sich mein Herz zu Gott er- heben, wenn ich keine Lücken zwischen euch gewahr würde! Welch ein überirdischer Adel unsers Geschlechts, wenn keiner von euch mir zuriefe: "Kind, hier fehlet mein unglücklicher Sohn, und dort eine unsrer Mütter! Suche sie nicht, Gott hat sie gerichtet, sein Name sey ewig gepriesen!" Jch will diese Vorstellung noch einen Augenblick abwärts Du, mein ewiger Vater! wenn alle Väter, ausser Adam, Der
Der 14te April. Einige kan ich nicht naͤher kennen lernen, denn ſie ſind — inder Hoͤlle. Und welche unerwartete Ahnen! Die meiſten waren Juden oder Heiden, und durch ſie ſehe ich mich mit Voͤlkern ver- wandt, deren Namen ich kaum gehoͤret hatte! Tretet denn naͤ- her, meine wuͤrdige Vorfahren! und nehmet mich in eure bimli- ſche Geſellſchaft auf. Ach! wie ſolte ſich mein Herz zu Gott er- heben, wenn ich keine Luͤcken zwiſchen euch gewahr wuͤrde! Welch ein uͤberirdiſcher Adel unſers Geſchlechts, wenn keiner von euch mir zuriefe: „Kind, hier fehlet mein ungluͤcklicher Sohn, und dort eine unſrer Muͤtter! Suche ſie nicht, Gott hat ſie gerichtet, ſein Name ſey ewig geprieſen!“ Jch will dieſe Vorſtellung noch einen Augenblick abwaͤrts Du, mein ewiger Vater! wenn alle Vaͤter, auſſer Adam, Der
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Der 14te April.
Einige kan ich nicht naͤher kennen lernen, denn ſie ſind — in
der Hoͤlle. Und welche unerwartete Ahnen! Die meiſten waren
Juden oder Heiden, und durch ſie ſehe ich mich mit Voͤlkern ver-
wandt, deren Namen ich kaum gehoͤret hatte! Tretet denn naͤ-
her, meine wuͤrdige Vorfahren! und nehmet mich in eure bimli-
ſche Geſellſchaft auf. Ach! wie ſolte ſich mein Herz zu Gott er-
heben, wenn ich keine Luͤcken zwiſchen euch gewahr wuͤrde! Welch
ein uͤberirdiſcher Adel unſers Geſchlechts, wenn keiner von euch
mir zuriefe: „Kind, hier fehlet mein ungluͤcklicher Sohn, und
dort eine unſrer Muͤtter! Suche ſie nicht, Gott hat ſie gerichtet,
ſein Name ſey ewig geprieſen!“
Jch will dieſe Vorſtellung noch einen Augenblick abwaͤrts
fortſetzen. Wann ich nun ſelig bin, und eine ſolche Fertigkeit
Gott zu loben habe, als jetzt, ihn zu vergeſſen: dann werde ich
meine, oder meiner Freunde Nachkommen mir folgen ſehen. Aber
es wird ein unſeliges Glied in dieſer Kette dann und wann man-
geln, und ich werde es nicht weiter ſehen, als vor dem Gerichts-
ſiuhl Gottes. Waͤren ſelige Geiſter des Grams faͤhig, oder liebten
ſie die Ehre Gottes nicht unendlich mehr, als ihr Fleiſch und
Blut: ſo waͤre das der erſchuͤtterndſte Anblick: ſein Kind, oder
ſeinen Enkel vor dem Richter beben, und dann auf ewig zur Hoͤlle
wandern zu ſehen! Jedoch dort hoͤren dunkle Empfindungen und
blinde Liebe auf.
Du, mein ewiger Vater! wenn alle Vaͤter, auſſer Adam,
Menſchenſoͤhne ſind! Du, mein ewiger Bruder! wenn auch leib-
liche Geſchwiſter auf immer von mir getrennt waͤren! Jhr, En-
gel! Parriarchen! Beſte Menſchen der Erde! Apoſtel! Juͤnger
und Nachfolger Jeſu! Jhr meine Vorfahren! hier graue Urel-
tern und dort meine Bruͤder und Geſpielen! — O! ihr ſaͤmt-
lich ſeyd meine Geſellſchaft, zu der ich mich anſchicken will! Stre-
cket nur eure Armen aus: Minuten noch, (bei euch aber ſind
tauſend Jahre wie Ein Tag!) ſo bin ich bei euch. Denn ich
werde ſo ſehr oft nicht mehr ſchlafen gehn!
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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