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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 5te April.
Der Wollust Reiz zu widerstreben,
Laß, Höchster! meine Weisheit seyn:
Sie ist ein Gift für unser Leben,
Und ihre Freuden werden Pein:
Drum fleh ich demutsvoll zu dir
O! schaff ein reines Herz in mir!


Hat je ein Laster die Menschen entehret und unglücklich gemacht,
so war es die Unkeuschheit. Wo sie überhand nahm, war
sie ein gewisser Vorbote des gänzlichen Verfalls einer Nation.
Man thut diesem Laster zu viel Ehre an, wenn man es für unwi-
derstehlich hält. Es giebt Menschen genug, die sich desselben
freiwillig oder gezwungen enthalten. Die erste Christen, und
selbst unsre heidnische Voreltern, waren gesünder als wir und hat-
ten auch Versuchungen: aber die Unzucht fand keine Sachwalter
unter ihnen. Die schreckliche Folgen der Unkeuschheit
beweisen vielmehr, daß sie unsrer Natur süsses Gift sey. Die
Seele wird zerstreuet, der Verstand geschwächt, das Herz thierisch
sinnlich, die Einbildungskraft schwärmt, das Gedächtniß nimt ab,
und fast alle übrige Leidenschaften werden zugleich mit erhitzt.
Ein Unzüchtiger gleicht einem Rasenden, der in der Fieberhitze sei-
nen Wärtern entspringt und sich tödlich erkältet. Nicht einmal
grosse weltliche Angelegenheiten kan er geschickt ausführen, ge-
schweige fromm seyn. Armut und Schande, Würmer und
Motten sind sein Lohn; denn sein ausgezehrter Körper -- jedoch
Aerzte und Spitäler mögen diesen eklen Punkt ausführen.

Der Nächste wird durch kein Laster mehr beleidiget, als durch
dieses. Man lasse Eltern die Wahl, ob sie bestohlen, oder durch
den Fall ihrer Tochter entehrt werden wollen: seyd lieber Mord-

brenner,
N 4


Der 5te April.
Der Wolluſt Reiz zu widerſtreben,
Laß, Hoͤchſter! meine Weisheit ſeyn:
Sie iſt ein Gift fuͤr unſer Leben,
Und ihre Freuden werden Pein:
Drum fleh ich demutsvoll zu dir
O! ſchaff ein reines Herz in mir!


Hat je ein Laſter die Menſchen entehret und ungluͤcklich gemacht,
ſo war es die Unkeuſchheit. Wo ſie uͤberhand nahm, war
ſie ein gewiſſer Vorbote des gaͤnzlichen Verfalls einer Nation.
Man thut dieſem Laſter zu viel Ehre an, wenn man es fuͤr unwi-
derſtehlich haͤlt. Es giebt Menſchen genug, die ſich deſſelben
freiwillig oder gezwungen enthalten. Die erſte Chriſten, und
ſelbſt unſre heidniſche Voreltern, waren geſuͤnder als wir und hat-
ten auch Verſuchungen: aber die Unzucht fand keine Sachwalter
unter ihnen. Die ſchreckliche Folgen der Unkeuſchheit
beweiſen vielmehr, daß ſie unſrer Natur ſuͤſſes Gift ſey. Die
Seele wird zerſtreuet, der Verſtand geſchwaͤcht, das Herz thieriſch
ſinnlich, die Einbildungskraft ſchwaͤrmt, das Gedaͤchtniß nimt ab,
und faſt alle uͤbrige Leidenſchaften werden zugleich mit erhitzt.
Ein Unzuͤchtiger gleicht einem Raſenden, der in der Fieberhitze ſei-
nen Waͤrtern entſpringt und ſich toͤdlich erkaͤltet. Nicht einmal
groſſe weltliche Angelegenheiten kan er geſchickt ausfuͤhren, ge-
ſchweige fromm ſeyn. Armut und Schande, Wuͤrmer und
Motten ſind ſein Lohn; denn ſein ausgezehrter Koͤrper — jedoch
Aerzte und Spitaͤler moͤgen dieſen eklen Punkt ausfuͤhren.

Der Naͤchſte wird durch kein Laſter mehr beleidiget, als durch
dieſes. Man laſſe Eltern die Wahl, ob ſie beſtohlen, oder durch
den Fall ihrer Tochter entehrt werden wollen: ſeyd lieber Mord-

brenner,
N 4
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[199[229]/0236] Der 5te April. Der Wolluſt Reiz zu widerſtreben, Laß, Hoͤchſter! meine Weisheit ſeyn: Sie iſt ein Gift fuͤr unſer Leben, Und ihre Freuden werden Pein: Drum fleh ich demutsvoll zu dir O! ſchaff ein reines Herz in mir! Hat je ein Laſter die Menſchen entehret und ungluͤcklich gemacht, ſo war es die Unkeuſchheit. Wo ſie uͤberhand nahm, war ſie ein gewiſſer Vorbote des gaͤnzlichen Verfalls einer Nation. Man thut dieſem Laſter zu viel Ehre an, wenn man es fuͤr unwi- derſtehlich haͤlt. Es giebt Menſchen genug, die ſich deſſelben freiwillig oder gezwungen enthalten. Die erſte Chriſten, und ſelbſt unſre heidniſche Voreltern, waren geſuͤnder als wir und hat- ten auch Verſuchungen: aber die Unzucht fand keine Sachwalter unter ihnen. Die ſchreckliche Folgen der Unkeuſchheit beweiſen vielmehr, daß ſie unſrer Natur ſuͤſſes Gift ſey. Die Seele wird zerſtreuet, der Verſtand geſchwaͤcht, das Herz thieriſch ſinnlich, die Einbildungskraft ſchwaͤrmt, das Gedaͤchtniß nimt ab, und faſt alle uͤbrige Leidenſchaften werden zugleich mit erhitzt. Ein Unzuͤchtiger gleicht einem Raſenden, der in der Fieberhitze ſei- nen Waͤrtern entſpringt und ſich toͤdlich erkaͤltet. Nicht einmal groſſe weltliche Angelegenheiten kan er geſchickt ausfuͤhren, ge- ſchweige fromm ſeyn. Armut und Schande, Wuͤrmer und Motten ſind ſein Lohn; denn ſein ausgezehrter Koͤrper — jedoch Aerzte und Spitaͤler moͤgen dieſen eklen Punkt ausfuͤhren. Der Naͤchſte wird durch kein Laſter mehr beleidiget, als durch dieſes. Man laſſe Eltern die Wahl, ob ſie beſtohlen, oder durch den Fall ihrer Tochter entehrt werden wollen: ſeyd lieber Mord- brenner, N 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 199[229]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/236>, abgerufen am 24.11.2024.