Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 4te April. der Ort, welcher dieses Glück über einen vermischten Haufen vonMenschen verbreitete? Wolte ich sagen, ich bin nicht würdig ge- nug, dieses Glücks theilhaftig zu werden: das hiesse mit andern Worten: ich verlange nur thierische Vergnügungen, und habe noch nicht Lust, ein Engel zu werden. Aber nun ist die natür- lichste Frage: werde ich denn jemals, oder wann werde ich den Mut bekommen, ein wahrer Mensch zu seyn? Wenn ich nicht will, so sind Himmel und Erde zu ohnmächtig, mich zu verbessern. Und will ich heute nicht: morgen ist schon mehr Unkraut aus mei- nem Herzen zu gäten. Der Schutt wächst immer höher an, durch welchen ich mich durcharbeiten soll. Endlich wird er so hoch, daß er mir die Aussicht nach Hülfsmitteln immer mehr benimt. Und mit zitternden Knien und dürren Händen diese Arbeit anzu- treten! -- Ach! mein Erlöser! laß mich nicht dergestalt in mein Eingeweide wüten, daß ich den Genuß deines Leibes und Blutes, diese wirksame Arzenei für meine Seele, andern überliesse, und mich unterdessen mit Träbern sättigte. Funfzigmal zum heiligen Abendmal gegangen, heißt doch zum mindsten hundert Tage christlich, wenigstens menschlich gelebet. Und wird das eine Klei- nigkeit am Gerichtstage seyn? Aber das zehnte, zwanzigste, dreis- sigstemal könte dich vieleicht, ohne deine Erwartung, so rühren, daß du ein wahrer Christ würdest. Es wird ja auch, wofern du nicht ganz Leichtsinn bist, immer etwas gutes kleben bleiben. Und ist es nicht schon Tugend, wenn du deinen Nächsten durch dein öffentliches Glaubensbekentniß erbauest? Welch ein Beweis für die Heiligkeit dieses Sakraments, daß selbst trotzige Gottlose zu schamhaft und zu furchtsam sind, es zu geniessen! Wie oft verband ich mich schon, o Jesu! so innigst mit dir Der
Der 4te April. der Ort, welcher dieſes Gluͤck uͤber einen vermiſchten Haufen vonMenſchen verbreitete? Wolte ich ſagen, ich bin nicht wuͤrdig ge- nug, dieſes Gluͤcks theilhaftig zu werden: das hieſſe mit andern Worten: ich verlange nur thieriſche Vergnuͤgungen, und habe noch nicht Luſt, ein Engel zu werden. Aber nun iſt die natuͤr- lichſte Frage: werde ich denn jemals, oder wann werde ich den Mut bekommen, ein wahrer Menſch zu ſeyn? Wenn ich nicht will, ſo ſind Himmel und Erde zu ohnmaͤchtig, mich zu verbeſſern. Und will ich heute nicht: morgen iſt ſchon mehr Unkraut aus mei- nem Herzen zu gaͤten. Der Schutt waͤchſt immer hoͤher an, durch welchen ich mich durcharbeiten ſoll. Endlich wird er ſo hoch, daß er mir die Ausſicht nach Huͤlfsmitteln immer mehr benimt. Und mit zitternden Knien und duͤrren Haͤnden dieſe Arbeit anzu- treten! — Ach! mein Erloͤſer! laß mich nicht dergeſtalt in mein Eingeweide wuͤten, daß ich den Genuß deines Leibes und Blutes, dieſe wirkſame Arzenei fuͤr meine Seele, andern uͤberlieſſe, und mich unterdeſſen mit Traͤbern ſaͤttigte. Funfzigmal zum heiligen Abendmal gegangen, heißt doch zum mindſten hundert Tage chriſtlich, wenigſtens menſchlich gelebet. Und wird das eine Klei- nigkeit am Gerichtstage ſeyn? Aber das zehnte, zwanzigſte, dreiſ- ſigſtemal koͤnte dich vieleicht, ohne deine Erwartung, ſo ruͤhren, daß du ein wahrer Chriſt wuͤrdeſt. Es wird ja auch, wofern du nicht ganz Leichtſinn biſt, immer etwas gutes kleben bleiben. Und iſt es nicht ſchon Tugend, wenn du deinen Naͤchſten durch dein oͤffentliches Glaubensbekentniß erbaueſt? Welch ein Beweis fuͤr die Heiligkeit dieſes Sakraments, daß ſelbſt trotzige Gottloſe zu ſchamhaft und zu furchtſam ſind, es zu genieſſen! Wie oft verband ich mich ſchon, o Jeſu! ſo innigſt mit dir Der
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Der 4te April.
der Ort, welcher dieſes Gluͤck uͤber einen vermiſchten Haufen von
Menſchen verbreitete? Wolte ich ſagen, ich bin nicht wuͤrdig ge-
nug, dieſes Gluͤcks theilhaftig zu werden: das hieſſe mit andern
Worten: ich verlange nur thieriſche Vergnuͤgungen, und habe
noch nicht Luſt, ein Engel zu werden. Aber nun iſt die natuͤr-
lichſte Frage: werde ich denn jemals, oder wann werde ich den
Mut bekommen, ein wahrer Menſch zu ſeyn? Wenn ich nicht
will, ſo ſind Himmel und Erde zu ohnmaͤchtig, mich zu verbeſſern.
Und will ich heute nicht: morgen iſt ſchon mehr Unkraut aus mei-
nem Herzen zu gaͤten. Der Schutt waͤchſt immer hoͤher an,
durch welchen ich mich durcharbeiten ſoll. Endlich wird er ſo hoch,
daß er mir die Ausſicht nach Huͤlfsmitteln immer mehr benimt.
Und mit zitternden Knien und duͤrren Haͤnden dieſe Arbeit anzu-
treten! — Ach! mein Erloͤſer! laß mich nicht dergeſtalt in mein
Eingeweide wuͤten, daß ich den Genuß deines Leibes und Blutes,
dieſe wirkſame Arzenei fuͤr meine Seele, andern uͤberlieſſe, und
mich unterdeſſen mit Traͤbern ſaͤttigte. Funfzigmal zum heiligen
Abendmal gegangen, heißt doch zum mindſten hundert Tage
chriſtlich, wenigſtens menſchlich gelebet. Und wird das eine Klei-
nigkeit am Gerichtstage ſeyn? Aber das zehnte, zwanzigſte, dreiſ-
ſigſtemal koͤnte dich vieleicht, ohne deine Erwartung, ſo ruͤhren,
daß du ein wahrer Chriſt wuͤrdeſt. Es wird ja auch, wofern du
nicht ganz Leichtſinn biſt, immer etwas gutes kleben bleiben. Und
iſt es nicht ſchon Tugend, wenn du deinen Naͤchſten durch dein
oͤffentliches Glaubensbekentniß erbaueſt? Welch ein Beweis fuͤr
die Heiligkeit dieſes Sakraments, daß ſelbſt trotzige Gottloſe zu
ſchamhaft und zu furchtſam ſind, es zu genieſſen!
Wie oft verband ich mich ſchon, o Jeſu! ſo innigſt mit dir
und den Deinigen, daß wir gleichſam Ein Leib wurden! Nie muͤſſe
ich ſchlechter denken und ſchlechter handeln, als ich es am Tage
der Kommunion zu thun pflege! Noch im Tode ſey mir dein liebes-
volle Teſtament, Staͤrke, Vergebung der Suͤnden und Leben!
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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