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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 3te Aprit.
Menschen. Aber die Vorsicht hat dennoch recht, und sie gab
ihm seinen geraden Körper nicht umsonst. Vieleicht wäre er der
Freigeist seines Dorfs, der Ehrenschänder mancher Hütten, und
der Anführer eines rebellischen Trupps geworden. Oder war er
zu alle dem zu dumm, zu kränklich, zu furchtsam: so ward er
vieleicht der Separatist, der Kupler oder Geldwechsler seines
Dorfs; zog durch genaue Wirthschaft so viel Land und Vermö-
gen an sich, daß er alle seine Nachbarn überbot und auskaufte:
und dadurch am Ende zehn Familien zu Grunde richtete. Der
Knoten dazu war schon geschürtzt: aber es entwickelt sich alles
glücklich. Er bekomt einen edlen Wuchs, und stirbt auf dem
Bette der Ehren, gesegnet, da er sonst von vielen verflucht wor-
den wäre. Hier verstehen wir zu wenig: aber in der Ewigkeit
wird jeder sagen müssen:

Der Weise, der mein Loos gezogen,
Der zog für mich das beste Loos.
Die Hand, die meine Last gewogen,
Die machte nicht den Druck zu groß.
Wie thörigt, wenn ich grübelnd flche!
Nein! ungekränkt bleib ich dabei:
Es mag mir gehen, wie es gehe,
Daß doch mein Glück das beste sey.

Hier, wo ich jetzt anbete, ist der beste Ort, wo ich heut an-
beten könte. Und wäre mir diese Wahrheit noch so unwahrschem-
lich, so wird sie sich doch immer mehr entwickeln, je frömmer ich
werde. Ohne Frömmigkeit aber bleibet mir alles in der Welt
widerlich, und lieget mir alles unter dem Fluch, ich mag ergrei-
fen, was ich will. Mein gütigster Versorger! dir zur Ehre will
ich es glauben, daß ich unter allen andern Umständen unglücklich
wäre. Welch ein Trost: ich schlafe so gut, als möglich, und
mein Schicksal wäre schlechter, wenn es anders wäre!

Der

Der 3te Aprit.
Menſchen. Aber die Vorſicht hat dennoch recht, und ſie gab
ihm ſeinen geraden Koͤrper nicht umſonſt. Vieleicht waͤre er der
Freigeiſt ſeines Dorfs, der Ehrenſchaͤnder mancher Huͤtten, und
der Anfuͤhrer eines rebelliſchen Trupps geworden. Oder war er
zu alle dem zu dumm, zu kraͤnklich, zu furchtſam: ſo ward er
vieleicht der Separatiſt, der Kupler oder Geldwechsler ſeines
Dorfs; zog durch genaue Wirthſchaft ſo viel Land und Vermoͤ-
gen an ſich, daß er alle ſeine Nachbarn uͤberbot und auskaufte:
und dadurch am Ende zehn Familien zu Grunde richtete. Der
Knoten dazu war ſchon geſchuͤrtzt: aber es entwickelt ſich alles
gluͤcklich. Er bekomt einen edlen Wuchs, und ſtirbt auf dem
Bette der Ehren, geſegnet, da er ſonſt von vielen verflucht wor-
den waͤre. Hier verſtehen wir zu wenig: aber in der Ewigkeit
wird jeder ſagen muͤſſen:

Der Weiſe, der mein Loos gezogen,
Der zog fuͤr mich das beſte Loos.
Die Hand, die meine Laſt gewogen,
Die machte nicht den Druck zu groß.
Wie thoͤrigt, wenn ich gruͤbelnd flche!
Nein! ungekraͤnkt bleib ich dabei:
Es mag mir gehen, wie es gehe,
Daß doch mein Gluͤck das beſte ſey.

Hier, wo ich jetzt anbete, iſt der beſte Ort, wo ich heut an-
beten koͤnte. Und waͤre mir dieſe Wahrheit noch ſo unwahrſchem-
lich, ſo wird ſie ſich doch immer mehr entwickeln, je froͤmmer ich
werde. Ohne Froͤmmigkeit aber bleibet mir alles in der Welt
widerlich, und lieget mir alles unter dem Fluch, ich mag ergrei-
fen, was ich will. Mein guͤtigſter Verſorger! dir zur Ehre will
ich es glauben, daß ich unter allen andern Umſtaͤnden ungluͤcklich
waͤre. Welch ein Troſt: ich ſchlafe ſo gut, als moͤglich, und
mein Schickſal waͤre ſchlechter, wenn es anders waͤre!

Der
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[196[226]/0233] Der 3te Aprit. Menſchen. Aber die Vorſicht hat dennoch recht, und ſie gab ihm ſeinen geraden Koͤrper nicht umſonſt. Vieleicht waͤre er der Freigeiſt ſeines Dorfs, der Ehrenſchaͤnder mancher Huͤtten, und der Anfuͤhrer eines rebelliſchen Trupps geworden. Oder war er zu alle dem zu dumm, zu kraͤnklich, zu furchtſam: ſo ward er vieleicht der Separatiſt, der Kupler oder Geldwechsler ſeines Dorfs; zog durch genaue Wirthſchaft ſo viel Land und Vermoͤ- gen an ſich, daß er alle ſeine Nachbarn uͤberbot und auskaufte: und dadurch am Ende zehn Familien zu Grunde richtete. Der Knoten dazu war ſchon geſchuͤrtzt: aber es entwickelt ſich alles gluͤcklich. Er bekomt einen edlen Wuchs, und ſtirbt auf dem Bette der Ehren, geſegnet, da er ſonſt von vielen verflucht wor- den waͤre. Hier verſtehen wir zu wenig: aber in der Ewigkeit wird jeder ſagen muͤſſen: Der Weiſe, der mein Loos gezogen, Der zog fuͤr mich das beſte Loos. Die Hand, die meine Laſt gewogen, Die machte nicht den Druck zu groß. Wie thoͤrigt, wenn ich gruͤbelnd flche! Nein! ungekraͤnkt bleib ich dabei: Es mag mir gehen, wie es gehe, Daß doch mein Gluͤck das beſte ſey. Hier, wo ich jetzt anbete, iſt der beſte Ort, wo ich heut an- beten koͤnte. Und waͤre mir dieſe Wahrheit noch ſo unwahrſchem- lich, ſo wird ſie ſich doch immer mehr entwickeln, je froͤmmer ich werde. Ohne Froͤmmigkeit aber bleibet mir alles in der Welt widerlich, und lieget mir alles unter dem Fluch, ich mag ergrei- fen, was ich will. Mein guͤtigſter Verſorger! dir zur Ehre will ich es glauben, daß ich unter allen andern Umſtaͤnden ungluͤcklich waͤre. Welch ein Troſt: ich ſchlafe ſo gut, als moͤglich, und mein Schickſal waͤre ſchlechter, wenn es anders waͤre! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 196[226]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/233>, abgerufen am 21.11.2024.