So werden sich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und Käfer legitimiren: daß sie mehr können als blos bei uns auf Execution liegen. Und alsdann wird sich der Mensch schämen, daß er Ungeziefer nante, was einen so grossen Nutzen für ihn hatte. Aber auch schon jetzt wird
5) unser Verstand durch Betrachtung dieser Minia- turwelt vergrössert. Alle Augenblicke neue Aufgaben für ihn! Ein Beispiel zur Probe! -- Auf diesem Baum schliefet eine junge Gartenspinne aus dem Ei. Bey der Mutter kan sie nicht lange bleiben; sie muß daher ihren eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen ist ihre ganze Kunst, und doch soll sie von fliegenden Thieren leben. Sie muß also aus dem Dickigt des Baums hervor, und ihr Gewebe auf der Heerstrasse der Mücken und Fliegen aufschlagen. Also von einem Baum etwa zum andern. Und noch besser, wenn sie es über diesen Bach weg span- nen könte, über welchem beständig kleine geflügelte Thiere lustwandeln. Aber die Frage ist: wie soll die Spinne das Wasser paßiren und ihr Gespinst an beide getrennte Bäu- me befestigen? Eine wichtige Aufgabe für alle Akademien der Wissenschaften, welche es noch nicht von der Spinne gelernet hätten! -- Nein! ihr errathet es nicht. Aber seht: die Spinne verfügt sich auf die äusserste Spitze eines Zweiges, und drückt mit den beiden hintersten Füssen aus ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen lang. Diese überläßt sie der Luft, welche damit spielet und endlich einmal einen Faden über das Flüßchen wehet. Die Spinne, welche das andre Ende derselben im Leibe hat, probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleistrige Faden schon an- gelandet und befestiget sey. Kaum fühlet sie, daß er straff wird, so richtet sie ihn noch mehr zu einer Brücke ein, und paßiret dieselbe gleich darauf. In der Mitte dieses Fadens über dem Bach läßt sie sich an einem neuen Faden herab,
und
Vorrede
So werden ſich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und Kaͤfer legitimiren: daß ſie mehr koͤnnen als blos bei uns auf Execution liegen. Und alsdann wird ſich der Menſch ſchaͤmen, daß er Ungeziefer nante, was einen ſo groſſen Nutzen fuͤr ihn hatte. Aber auch ſchon jetzt wird
5) unſer Verſtand durch Betrachtung dieſer Minia- turwelt vergroͤſſert. Alle Augenblicke neue Aufgaben fuͤr ihn! Ein Beiſpiel zur Probe! — Auf dieſem Baum ſchliefet eine junge Gartenſpinne aus dem Ei. Bey der Mutter kan ſie nicht lange bleiben; ſie muß daher ihren eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen iſt ihre ganze Kunſt, und doch ſoll ſie von fliegenden Thieren leben. Sie muß alſo aus dem Dickigt des Baums hervor, und ihr Gewebe auf der Heerſtraſſe der Muͤcken und Fliegen aufſchlagen. Alſo von einem Baum etwa zum andern. Und noch beſſer, wenn ſie es uͤber dieſen Bach weg ſpan- nen koͤnte, uͤber welchem beſtaͤndig kleine gefluͤgelte Thiere luſtwandeln. Aber die Frage iſt: wie ſoll die Spinne das Waſſer paßiren und ihr Geſpinſt an beide getrennte Baͤu- me befeſtigen? Eine wichtige Aufgabe fuͤr alle Akademien der Wiſſenſchaften, welche es noch nicht von der Spinne gelernet haͤtten! — Nein! ihr errathet es nicht. Aber ſeht: die Spinne verfuͤgt ſich auf die aͤuſſerſte Spitze eines Zweiges, und druͤckt mit den beiden hinterſten Fuͤſſen aus ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen lang. Dieſe uͤberlaͤßt ſie der Luft, welche damit ſpielet und endlich einmal einen Faden uͤber das Fluͤßchen wehet. Die Spinne, welche das andre Ende derſelben im Leibe hat, probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleiſtrige Faden ſchon an- gelandet und befeſtiget ſey. Kaum fuͤhlet ſie, daß er ſtraff wird, ſo richtet ſie ihn noch mehr zu einer Bruͤcke ein, und paßiret dieſelbe gleich darauf. In der Mitte dieſes Fadens uͤber dem Bach laͤßt ſie ſich an einem neuen Faden herab,
und
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Vorrede
So werden ſich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und
Kaͤfer legitimiren: daß ſie mehr koͤnnen als blos bei uns
auf Execution liegen. Und alsdann wird ſich der Menſch
ſchaͤmen, daß er Ungeziefer nante, was einen ſo groſſen
Nutzen fuͤr ihn hatte. Aber auch ſchon jetzt wird
5) unſer Verſtand durch Betrachtung dieſer Minia-
turwelt vergroͤſſert. Alle Augenblicke neue Aufgaben fuͤr
ihn! Ein Beiſpiel zur Probe! — Auf dieſem Baum
ſchliefet eine junge Gartenſpinne aus dem Ei. Bey der
Mutter kan ſie nicht lange bleiben; ſie muß daher ihren
eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen iſt ihre
ganze Kunſt, und doch ſoll ſie von fliegenden Thieren leben.
Sie muß alſo aus dem Dickigt des Baums hervor, und
ihr Gewebe auf der Heerſtraſſe der Muͤcken und Fliegen
aufſchlagen. Alſo von einem Baum etwa zum andern.
Und noch beſſer, wenn ſie es uͤber dieſen Bach weg ſpan-
nen koͤnte, uͤber welchem beſtaͤndig kleine gefluͤgelte Thiere
luſtwandeln. Aber die Frage iſt: wie ſoll die Spinne das
Waſſer paßiren und ihr Geſpinſt an beide getrennte Baͤu-
me befeſtigen? Eine wichtige Aufgabe fuͤr alle Akademien
der Wiſſenſchaften, welche es noch nicht von der Spinne
gelernet haͤtten! — Nein! ihr errathet es nicht. Aber
ſeht: die Spinne verfuͤgt ſich auf die aͤuſſerſte Spitze eines
Zweiges, und druͤckt mit den beiden hinterſten Fuͤſſen aus
ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen
lang. Dieſe uͤberlaͤßt ſie der Luft, welche damit ſpielet und
endlich einmal einen Faden uͤber das Fluͤßchen wehet. Die
Spinne, welche das andre Ende derſelben im Leibe hat,
probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleiſtrige Faden ſchon an-
gelandet und befeſtiget ſey. Kaum fuͤhlet ſie, daß er ſtraff
wird, ſo richtet ſie ihn noch mehr zu einer Bruͤcke ein, und
paßiret dieſelbe gleich darauf. In der Mitte dieſes Fadens
uͤber dem Bach laͤßt ſie ſich an einem neuen Faden herab,
und
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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