Die Völker haben dein geharrt, Bis daß die Zeit erfüllet ward: Da sandte Gott von seinem Thron Das Heil der Welt, dich, seinen Sohn!
Bei der Leidensgeschichte des Erlösers ist kein Umstand so ge- ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren solte. Die abgemeßne Leidenszeit Jesu verdient andäch- tige Bewunderung von mir.
Ueberhaupt fiel die Menschwerdung Jesu und sein Wandel auf Erden in die dazu günstigste Zeit. Vierzig Jahre früher oder später, war im jüdischen Lande so viel Mord und Brand, daß der Heiland und seine Jünger wenig Aufmerksamkeit erregen konten. Gott aber winkte, und die Völker legten unter dem Kaiser Au- gust die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefsten Frieden trat also der Friedefürst auf, und jeder Jude konte ungestört zu den Osterfesten nach Jerusalem reisen, und was er dort vom Meßias gesehen und gehöret hatte, in seiner Heimat verbreiten. Einige hundert Jahre früher waren Künste und Wissenschaften noch wenig gestiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert später waren sie schon wieder im Verfall. Als Christus geboren ward, hatten sie den höchsten Gipfel erreicht. Seine Lehren und Werke hatten also die scharfsichtigsten Beobachter, da hingegen Muhammed in einer Zeit und unter Völkern lebte, wo Dumheit und Barbarei keine einsichtsvolle Prüfung erlaubten. Erschien Jesus einige Jahre später, so war das Zepter von Juda ent- wandt, keine richterliche Gewalt, Ansehen und Ordnung mehr unter diesem Volke, und die Religion war durch die Pharisäer völlig verunstaltet.
Die Zeit der Kreuzigung insbesondere war eben so wenig ein blindes Ohngefehr. Hätte sich Jesus, nachdem er den Lazarus auf-
erweckt
L 3
Der 20te Maͤrz.
Die Voͤlker haben dein geharrt, Bis daß die Zeit erfuͤllet ward: Da ſandte Gott von ſeinem Thron Das Heil der Welt, dich, ſeinen Sohn!
Bei der Leidensgeſchichte des Erloͤſers iſt kein Umſtand ſo ge- ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren ſolte. Die abgemeßne Leidenszeit Jeſu verdient andaͤch- tige Bewunderung von mir.
Ueberhaupt fiel die Menſchwerdung Jeſu und ſein Wandel auf Erden in die dazu guͤnſtigſte Zeit. Vierzig Jahre fruͤher oder ſpaͤter, war im juͤdiſchen Lande ſo viel Mord und Brand, daß der Heiland und ſeine Juͤnger wenig Aufmerkſamkeit erregen konten. Gott aber winkte, und die Voͤlker legten unter dem Kaiſer Au- guſt die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefſten Frieden trat alſo der Friedefuͤrſt auf, und jeder Jude konte ungeſtoͤrt zu den Oſterfeſten nach Jeruſalem reiſen, und was er dort vom Meßias geſehen und gehoͤret hatte, in ſeiner Heimat verbreiten. Einige hundert Jahre fruͤher waren Kuͤnſte und Wiſſenſchaften noch wenig geſtiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert ſpaͤter waren ſie ſchon wieder im Verfall. Als Chriſtus geboren ward, hatten ſie den hoͤchſten Gipfel erreicht. Seine Lehren und Werke hatten alſo die ſcharfſichtigſten Beobachter, da hingegen Muhammed in einer Zeit und unter Voͤlkern lebte, wo Dumheit und Barbarei keine einſichtsvolle Pruͤfung erlaubten. Erſchien Jeſus einige Jahre ſpaͤter, ſo war das Zepter von Juda ent- wandt, keine richterliche Gewalt, Anſehen und Ordnung mehr unter dieſem Volke, und die Religion war durch die Phariſaͤer voͤllig verunſtaltet.
Die Zeit der Kreuzigung insbeſondere war eben ſo wenig ein blindes Ohngefehr. Haͤtte ſich Jeſus, nachdem er den Lazarus auf-
erweckt
L 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0202"n="165[195]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 20<hirendition="#sup">te</hi> Maͤrz.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">D</hi>ie Voͤlker haben dein geharrt,</l><lb/><l>Bis daß die Zeit erfuͤllet ward:</l><lb/><l>Da ſandte Gott von ſeinem Thron</l><lb/><l>Das Heil der Welt, dich, ſeinen Sohn!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">B</hi>ei der Leidensgeſchichte des Erloͤſers iſt kein Umſtand ſo ge-<lb/>
ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren<lb/>ſolte. <hirendition="#fr">Die abgemeßne Leidenszeit Jeſu</hi> verdient andaͤch-<lb/>
tige Bewunderung von mir.</p><lb/><p>Ueberhaupt fiel die Menſchwerdung Jeſu und ſein Wandel<lb/>
auf Erden in die dazu guͤnſtigſte Zeit. Vierzig Jahre fruͤher oder<lb/>ſpaͤter, war im juͤdiſchen Lande ſo viel Mord und Brand, daß der<lb/>
Heiland und ſeine Juͤnger wenig Aufmerkſamkeit erregen konten.<lb/>
Gott aber winkte, und die Voͤlker legten unter dem Kaiſer Au-<lb/>
guſt die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefſten Frieden<lb/>
trat alſo der Friedefuͤrſt auf, und jeder Jude konte ungeſtoͤrt zu<lb/>
den Oſterfeſten nach Jeruſalem reiſen, und was er dort vom<lb/>
Meßias geſehen und gehoͤret hatte, in ſeiner Heimat verbreiten.<lb/>
Einige hundert Jahre fruͤher waren Kuͤnſte und Wiſſenſchaften<lb/>
noch wenig geſtiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert<lb/>ſpaͤter waren ſie ſchon wieder im Verfall. Als Chriſtus geboren<lb/>
ward, hatten ſie den hoͤchſten Gipfel erreicht. Seine Lehren und<lb/>
Werke hatten alſo die ſcharfſichtigſten Beobachter, da hingegen<lb/>
Muhammed in einer Zeit und unter Voͤlkern lebte, wo Dumheit<lb/>
und Barbarei keine einſichtsvolle Pruͤfung erlaubten. Erſchien<lb/>
Jeſus einige Jahre ſpaͤter, ſo war das Zepter von Juda ent-<lb/>
wandt, keine richterliche Gewalt, Anſehen und Ordnung mehr<lb/>
unter dieſem Volke, und die Religion war durch die Phariſaͤer<lb/>
voͤllig verunſtaltet.</p><lb/><p>Die Zeit der Kreuzigung insbeſondere war eben ſo wenig ein<lb/>
blindes Ohngefehr. Haͤtte ſich Jeſus, nachdem er den Lazarus auf-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">L 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">erweckt</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[165[195]/0202]
Der 20te Maͤrz.
Die Voͤlker haben dein geharrt,
Bis daß die Zeit erfuͤllet ward:
Da ſandte Gott von ſeinem Thron
Das Heil der Welt, dich, ſeinen Sohn!
Bei der Leidensgeſchichte des Erloͤſers iſt kein Umſtand ſo ge-
ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren
ſolte. Die abgemeßne Leidenszeit Jeſu verdient andaͤch-
tige Bewunderung von mir.
Ueberhaupt fiel die Menſchwerdung Jeſu und ſein Wandel
auf Erden in die dazu guͤnſtigſte Zeit. Vierzig Jahre fruͤher oder
ſpaͤter, war im juͤdiſchen Lande ſo viel Mord und Brand, daß der
Heiland und ſeine Juͤnger wenig Aufmerkſamkeit erregen konten.
Gott aber winkte, und die Voͤlker legten unter dem Kaiſer Au-
guſt die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefſten Frieden
trat alſo der Friedefuͤrſt auf, und jeder Jude konte ungeſtoͤrt zu
den Oſterfeſten nach Jeruſalem reiſen, und was er dort vom
Meßias geſehen und gehoͤret hatte, in ſeiner Heimat verbreiten.
Einige hundert Jahre fruͤher waren Kuͤnſte und Wiſſenſchaften
noch wenig geſtiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert
ſpaͤter waren ſie ſchon wieder im Verfall. Als Chriſtus geboren
ward, hatten ſie den hoͤchſten Gipfel erreicht. Seine Lehren und
Werke hatten alſo die ſcharfſichtigſten Beobachter, da hingegen
Muhammed in einer Zeit und unter Voͤlkern lebte, wo Dumheit
und Barbarei keine einſichtsvolle Pruͤfung erlaubten. Erſchien
Jeſus einige Jahre ſpaͤter, ſo war das Zepter von Juda ent-
wandt, keine richterliche Gewalt, Anſehen und Ordnung mehr
unter dieſem Volke, und die Religion war durch die Phariſaͤer
voͤllig verunſtaltet.
Die Zeit der Kreuzigung insbeſondere war eben ſo wenig ein
blindes Ohngefehr. Haͤtte ſich Jeſus, nachdem er den Lazarus auf-
erweckt
L 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 165[195]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/202>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.