Ist Gott auch jemals von uns fern? Weiß er nicht aller Wege? Wo ist die Nacht, da sich dem Herrn Ein Mensch verbergen möge? Die Finsterniß ist vor ihm Licht: Gedanken selbst entfliehn ihm nicht In ihrer ersten Bildung.
Auch jetzt, nachdem ich mehr einsam und mir selbst überlassen bin, bei diesem blassen Scheine des Lichts, und bei der zu- nehmenden Stille um mich her, ist der Allgegenwärtige meine Gesellschaft. Kein Geschöpf ist jemals allein, sondern le- bet und webet in Gott. Der Allgütige ist allgegenwärtig so wol bei dem Bluturtheil, das auf dem Thron unterschrieben wird, als bei dem Gefangnen, welcher dis Todesurtheil empfängt, und zitternd mit den Ketten rasselt. Keine Kreatur, kein Haar, kein Gedanke kan seiner genauen Aufsicht entfallen; und bettete ich mir in die Hölle, siehe! so bist du auch da.
Eine demütigende drohende Idee: daß ich immer minorenn bleibe, und in alle Ewigkeit nicht mir selbst überlassen bin! Luft wird zum Leben der körperlichen Geschöpfe, und Licht zu ihrer Sichtbarkeit erfodert, und das alles kan ihnen kein Geringerer geben, als der Allmächtige. Jede frevelhafte That, jeder unhei- lige Gedanke, jede mögliche Vorstellung, welche ich gehabt haben würde, je nachdem ich diese oder jene Reizung gehabt hätte: das alles ist vor den Augen des Allwissenden so deutlich entwickelt, daß er sich dessen in Ewigkeit bewußt seyn wird. Erinnere dich,
ver,
Der 7te Maͤrz.
Iſt Gott auch jemals von uns fern? Weiß er nicht aller Wege? Wo iſt die Nacht, da ſich dem Herrn Ein Menſch verbergen moͤge? Die Finſterniß iſt vor ihm Licht: Gedanken ſelbſt entfliehn ihm nicht In ihrer erſten Bildung.
Auch jetzt, nachdem ich mehr einſam und mir ſelbſt uͤberlaſſen bin, bei dieſem blaſſen Scheine des Lichts, und bei der zu- nehmenden Stille um mich her, iſt der Allgegenwaͤrtige meine Geſellſchaft. Kein Geſchoͤpf iſt jemals allein, ſondern le- bet und webet in Gott. Der Allguͤtige iſt allgegenwaͤrtig ſo wol bei dem Bluturtheil, das auf dem Thron unterſchrieben wird, als bei dem Gefangnen, welcher dis Todesurtheil empfaͤngt, und zitternd mit den Ketten raſſelt. Keine Kreatur, kein Haar, kein Gedanke kan ſeiner genauen Aufſicht entfallen; und bettete ich mir in die Hoͤlle, ſiehe! ſo biſt du auch da.
Eine demuͤtigende drohende Idee: daß ich immer minorenn bleibe, und in alle Ewigkeit nicht mir ſelbſt uͤberlaſſen bin! Luft wird zum Leben der koͤrperlichen Geſchoͤpfe, und Licht zu ihrer Sichtbarkeit erfodert, und das alles kan ihnen kein Geringerer geben, als der Allmaͤchtige. Jede frevelhafte That, jeder unhei- lige Gedanke, jede moͤgliche Vorſtellung, welche ich gehabt haben wuͤrde, je nachdem ich dieſe oder jene Reizung gehabt haͤtte: das alles iſt vor den Augen des Allwiſſenden ſo deutlich entwickelt, daß er ſich deſſen in Ewigkeit bewußt ſeyn wird. Erinnere dich,
ver,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0176"n="139[169]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>Der 7<hirendition="#sup">te</hi> Maͤrz.</head><lb/><lgtype="poem"><l>Iſt Gott auch jemals von uns fern?</l><lb/><l>Weiß er nicht aller Wege?</l><lb/><l>Wo iſt die Nacht, da ſich dem Herrn</l><lb/><l>Ein Menſch verbergen moͤge?</l><lb/><l>Die Finſterniß iſt vor ihm Licht:</l><lb/><l>Gedanken ſelbſt entfliehn ihm nicht</l><lb/><l>In ihrer erſten Bildung.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">A</hi>uch jetzt, nachdem ich mehr einſam und mir ſelbſt uͤberlaſſen<lb/>
bin, bei dieſem blaſſen Scheine des Lichts, und bei der zu-<lb/>
nehmenden Stille um mich her, iſt <hirendition="#fr">der Allgegenwaͤrtige</hi><lb/>
meine Geſellſchaft. Kein Geſchoͤpf iſt jemals allein, ſondern le-<lb/>
bet und webet in Gott. Der Allguͤtige iſt allgegenwaͤrtig ſo wol<lb/>
bei dem Bluturtheil, das auf dem Thron unterſchrieben wird,<lb/>
als bei dem Gefangnen, welcher dis Todesurtheil empfaͤngt, und<lb/>
zitternd mit den Ketten raſſelt. Keine Kreatur, kein Haar, kein<lb/>
Gedanke kan ſeiner genauen Aufſicht entfallen; und bettete ich mir<lb/>
in die Hoͤlle, ſiehe! ſo biſt du auch da.</p><lb/><p>Eine demuͤtigende drohende Idee: daß ich immer minorenn<lb/>
bleibe, und in alle Ewigkeit nicht mir ſelbſt uͤberlaſſen bin! Luft<lb/>
wird zum Leben der koͤrperlichen Geſchoͤpfe, und Licht zu ihrer<lb/>
Sichtbarkeit erfodert, und das alles kan ihnen kein Geringerer<lb/>
geben, als der Allmaͤchtige. Jede frevelhafte That, jeder unhei-<lb/>
lige Gedanke, jede moͤgliche Vorſtellung, welche ich gehabt haben<lb/>
wuͤrde, je nachdem ich dieſe oder jene Reizung gehabt haͤtte: das<lb/>
alles iſt vor den Augen des Allwiſſenden ſo deutlich entwickelt,<lb/>
daß er ſich deſſen in Ewigkeit bewußt ſeyn wird. Erinnere dich,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ver,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[139[169]/0176]
Der 7te Maͤrz.
Iſt Gott auch jemals von uns fern?
Weiß er nicht aller Wege?
Wo iſt die Nacht, da ſich dem Herrn
Ein Menſch verbergen moͤge?
Die Finſterniß iſt vor ihm Licht:
Gedanken ſelbſt entfliehn ihm nicht
In ihrer erſten Bildung.
Auch jetzt, nachdem ich mehr einſam und mir ſelbſt uͤberlaſſen
bin, bei dieſem blaſſen Scheine des Lichts, und bei der zu-
nehmenden Stille um mich her, iſt der Allgegenwaͤrtige
meine Geſellſchaft. Kein Geſchoͤpf iſt jemals allein, ſondern le-
bet und webet in Gott. Der Allguͤtige iſt allgegenwaͤrtig ſo wol
bei dem Bluturtheil, das auf dem Thron unterſchrieben wird,
als bei dem Gefangnen, welcher dis Todesurtheil empfaͤngt, und
zitternd mit den Ketten raſſelt. Keine Kreatur, kein Haar, kein
Gedanke kan ſeiner genauen Aufſicht entfallen; und bettete ich mir
in die Hoͤlle, ſiehe! ſo biſt du auch da.
Eine demuͤtigende drohende Idee: daß ich immer minorenn
bleibe, und in alle Ewigkeit nicht mir ſelbſt uͤberlaſſen bin! Luft
wird zum Leben der koͤrperlichen Geſchoͤpfe, und Licht zu ihrer
Sichtbarkeit erfodert, und das alles kan ihnen kein Geringerer
geben, als der Allmaͤchtige. Jede frevelhafte That, jeder unhei-
lige Gedanke, jede moͤgliche Vorſtellung, welche ich gehabt haben
wuͤrde, je nachdem ich dieſe oder jene Reizung gehabt haͤtte: das
alles iſt vor den Augen des Allwiſſenden ſo deutlich entwickelt,
daß er ſich deſſen in Ewigkeit bewußt ſeyn wird. Erinnere dich,
ver,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 139[169]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/176>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.