mogte ich lieber tanzen als beten! Kan ich meine besondre Ange- legenheiten Gott vortragen, und eine Viertelstunde anständig mit ihm allein reden? Kan ich verlebte Tage zusammen zählen und ihren Werth berechnen? Wie viele Summen kosten Laster und Thorheiten, und wie viel gab ich zum Behuf der Tugend aus? Könte ich wol am Schlusse des Jahrs das Buch meiner Ausga- ben vorzeigen, ohne über die kleine Rubrick zu erröthen, welche den Aufwand zum Besten meiner Seele, oder die Ausgaben für Religion und Tugend enthält? Setze ich nun noch hinzu alle mei- ne Sorgen, Schweiß, Nachtwachen, Reisen, Arbeiten bis zur Ohninacht, Thränen und angestrengtes Nachdenken, und alles, was mir schon die Liebe zum Irdischen gekostet hat; auf der an- dern Seite alle versäumte Erbauung, ungeheilte Zweifel --
Langmüthiger Gott! ich muß aufhören zu rechnen, oder ich versinke vor Scham! Nichts übertrift meine Unbesonnenheit; nur deine verschonende Huld war grösser noch als meine Sünden, welche dein Erbarmen gleichsam auf die Probe setzten. Womit soll ich meine Nachläßigkeit im Guten, und meinen Heißhunger nach den Träbern der Welt entschuldigen? Kan auch ein Feigen- blat das Auge des Allsehenden, oder den Blitz des Allmächrigen aufhalten? So oft ich mich erkühne, vor dir Rechnung abzule- gen, so müßte ich verzweifeln, wäre ich nicht -- ein Christ! Jede meiner Sünden ist eine Geissel, welche mich zu Jesu treibt. Nur durch ihn werden die Blitze des beleidigten Richters in Son- nenschein verwandelt. Nim mich also, mein göttlicher Erlöser! aufs neue in deine Gemeinschaft auf! Durchstreich mit deinem Blute die Schuld, die wider mich ist! Und lehre mich durch dein Wort und deinen Wandel künftig behutsamer leben, und mehr für meine Seele sorgen. Sie ist ja unendlich mehr werth, als mein Leib, der jetzt todtenähnlich dahin sinkt, und nächstens eine lange Nacht durch im Grabe schläft!
Der
Der 19te Februar.
mogte ich lieber tanzen als beten! Kan ich meine beſondre Ange- legenheiten Gott vortragen, und eine Viertelſtunde anſtaͤndig mit ihm allein reden? Kan ich verlebte Tage zuſammen zaͤhlen und ihren Werth berechnen? Wie viele Summen koſten Laſter und Thorheiten, und wie viel gab ich zum Behuf der Tugend aus? Koͤnte ich wol am Schluſſe des Jahrs das Buch meiner Ausga- ben vorzeigen, ohne uͤber die kleine Rubrick zu erroͤthen, welche den Aufwand zum Beſten meiner Seele, oder die Ausgaben fuͤr Religion und Tugend enthaͤlt? Setze ich nun noch hinzu alle mei- ne Sorgen, Schweiß, Nachtwachen, Reiſen, Arbeiten bis zur Ohninacht, Thraͤnen und angeſtrengtes Nachdenken, und alles, was mir ſchon die Liebe zum Irdiſchen gekoſtet hat; auf der an- dern Seite alle verſaͤumte Erbauung, ungeheilte Zweifel —
Langmuͤthiger Gott! ich muß aufhoͤren zu rechnen, oder ich verſinke vor Scham! Nichts uͤbertrift meine Unbeſonnenheit; nur deine verſchonende Huld war groͤſſer noch als meine Suͤnden, welche dein Erbarmen gleichſam auf die Probe ſetzten. Womit ſoll ich meine Nachlaͤßigkeit im Guten, und meinen Heißhunger nach den Traͤbern der Welt entſchuldigen? Kan auch ein Feigen- blat das Auge des Allſehenden, oder den Blitz des Allmaͤchrigen aufhalten? So oft ich mich erkuͤhne, vor dir Rechnung abzule- gen, ſo muͤßte ich verzweifeln, waͤre ich nicht — ein Chriſt! Jede meiner Suͤnden iſt eine Geiſſel, welche mich zu Jeſu treibt. Nur durch ihn werden die Blitze des beleidigten Richters in Son- nenſchein verwandelt. Nim mich alſo, mein goͤttlicher Erloͤſer! aufs neue in deine Gemeinſchaft auf! Durchſtreich mit deinem Blute die Schuld, die wider mich iſt! Und lehre mich durch dein Wort und deinen Wandel kuͤnftig behutſamer leben, und mehr fuͤr meine Seele ſorgen. Sie iſt ja unendlich mehr werth, als mein Leib, der jetzt todtenaͤhnlich dahin ſinkt, und naͤchſtens eine lange Nacht durch im Grabe ſchlaͤft!
Der
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[104[134]/0141]
Der 19te Februar.
mogte ich lieber tanzen als beten! Kan ich meine beſondre Ange-
legenheiten Gott vortragen, und eine Viertelſtunde anſtaͤndig mit
ihm allein reden? Kan ich verlebte Tage zuſammen zaͤhlen und
ihren Werth berechnen? Wie viele Summen koſten Laſter und
Thorheiten, und wie viel gab ich zum Behuf der Tugend aus?
Koͤnte ich wol am Schluſſe des Jahrs das Buch meiner Ausga-
ben vorzeigen, ohne uͤber die kleine Rubrick zu erroͤthen, welche
den Aufwand zum Beſten meiner Seele, oder die Ausgaben fuͤr
Religion und Tugend enthaͤlt? Setze ich nun noch hinzu alle mei-
ne Sorgen, Schweiß, Nachtwachen, Reiſen, Arbeiten bis zur
Ohninacht, Thraͤnen und angeſtrengtes Nachdenken, und alles,
was mir ſchon die Liebe zum Irdiſchen gekoſtet hat; auf der an-
dern Seite alle verſaͤumte Erbauung, ungeheilte Zweifel —
Langmuͤthiger Gott! ich muß aufhoͤren zu rechnen, oder ich
verſinke vor Scham! Nichts uͤbertrift meine Unbeſonnenheit;
nur deine verſchonende Huld war groͤſſer noch als meine Suͤnden,
welche dein Erbarmen gleichſam auf die Probe ſetzten. Womit
ſoll ich meine Nachlaͤßigkeit im Guten, und meinen Heißhunger
nach den Traͤbern der Welt entſchuldigen? Kan auch ein Feigen-
blat das Auge des Allſehenden, oder den Blitz des Allmaͤchrigen
aufhalten? So oft ich mich erkuͤhne, vor dir Rechnung abzule-
gen, ſo muͤßte ich verzweifeln, waͤre ich nicht — ein Chriſt!
Jede meiner Suͤnden iſt eine Geiſſel, welche mich zu Jeſu treibt.
Nur durch ihn werden die Blitze des beleidigten Richters in Son-
nenſchein verwandelt. Nim mich alſo, mein goͤttlicher Erloͤſer!
aufs neue in deine Gemeinſchaft auf! Durchſtreich mit deinem
Blute die Schuld, die wider mich iſt! Und lehre mich durch dein
Wort und deinen Wandel kuͤnftig behutſamer leben, und mehr
fuͤr meine Seele ſorgen. Sie iſt ja unendlich mehr werth, als
mein Leib, der jetzt todtenaͤhnlich dahin ſinkt, und naͤchſtens eine
lange Nacht durch im Grabe ſchlaͤft!
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 104[134]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/141>, abgerufen am 17.02.2025.
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