Soll ich auf dieser Welt Mein Leben höher bringen; Durch manchen sauren Tritt Hindurch ins Alter dringen: So gib Geduld! vor Sünd Und Schanden mich bewahr, Auf daß ich tragen mag Mit Ehren graues Haar.
Fast alle Menschen hoffen und wünschen ein hohes Alter, und bedenken nicht, daß es ein klägliches Glück, ohne die gehö- rige Eigenschaften dazu, sey. Ein alter Vertler, ein keichonder oder verachteter Greis will niemand seyn, und viele legen es doch daranf an, um es zu werden, falls sie noch ein halb Jahrhun- dert leben solten. Die wenigsten nehmen gehörige Rücksicht auf hohes Alter.
Gewiß, es gehöret viel dazu, im hohen Alter sich seines Le- bens erfreuen zu wollen. Bejahrte Personen brauchen viel, und sind insgemein so tadelsüchtig, daß ihre Begierden weit schwerer zu befriedigen sind, als in der Jugend. Well man im Alter sich und andern nicht lästig seyn, und beständig über seine Tage seuf- zen: ach! sie gefallen mir nicht! so muß man in der Jugend und in männlichen Jahren sich öfters fragen: was habe ich jetzt zu thun, um nach dreißig, vierzig Jahren gern und gut leben zu können?
Zu einem gefälligen und rühmlichen Alter wird folgendes er- fodert: Man muß Geld oder Vermögen haben, um nicht bloß andrer Gnade leben zu dürfen. Schäme ich mich in der Jugend
des
Tiedens Abendand. I. Th. G
Der 16te Februar.
Soll ich auf dieſer Welt Mein Leben hoͤher bringen; Durch manchen ſauren Tritt Hindurch ins Alter dringen: So gib Geduld! vor Suͤnd Und Schanden mich bewahr, Auf daß ich tragen mag Mit Ehren graues Haar.
Faſt alle Menſchen hoffen und wuͤnſchen ein hohes Alter, und bedenken nicht, daß es ein klaͤgliches Gluͤck, ohne die gehoͤ- rige Eigenſchaften dazu, ſey. Ein alter Vertler, ein keichonder oder verachteter Greis will niemand ſeyn, und viele legen es doch daranf an, um es zu werden, falls ſie noch ein halb Jahrhun- dert leben ſolten. Die wenigſten nehmen gehoͤrige Ruͤckſicht auf hohes Alter.
Gewiß, es gehoͤret viel dazu, im hohen Alter ſich ſeines Le- bens erfreuen zu wollen. Bejahrte Perſonen brauchen viel, und ſind insgemein ſo tadelſuͤchtig, daß ihre Begierden weit ſchwerer zu befriedigen ſind, als in der Jugend. Well man im Alter ſich und andern nicht laͤſtig ſeyn, und beſtaͤndig uͤber ſeine Tage ſeuf- zen: ach! ſie gefallen mir nicht! ſo muß man in der Jugend und in maͤnnlichen Jahren ſich oͤfters fragen: was habe ich jetzt zu thun, um nach dreißig, vierzig Jahren gern und gut leben zu koͤnnen?
Zu einem gefaͤlligen und ruͤhmlichen Alter wird folgendes er- fodert: Man muß Geld oder Vermoͤgen haben, um nicht bloß andrer Gnade leben zu duͤrfen. Schaͤme ich mich in der Jugend
des
Tiedens Abendand. I. Th. G
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[97[127]/0134]
Der 16te Februar.
Soll ich auf dieſer Welt
Mein Leben hoͤher bringen;
Durch manchen ſauren Tritt
Hindurch ins Alter dringen:
So gib Geduld! vor Suͤnd
Und Schanden mich bewahr,
Auf daß ich tragen mag
Mit Ehren graues Haar.
Faſt alle Menſchen hoffen und wuͤnſchen ein hohes Alter, und
bedenken nicht, daß es ein klaͤgliches Gluͤck, ohne die gehoͤ-
rige Eigenſchaften dazu, ſey. Ein alter Vertler, ein keichonder
oder verachteter Greis will niemand ſeyn, und viele legen es doch
daranf an, um es zu werden, falls ſie noch ein halb Jahrhun-
dert leben ſolten. Die wenigſten nehmen gehoͤrige Ruͤckſicht
auf hohes Alter.
Gewiß, es gehoͤret viel dazu, im hohen Alter ſich ſeines Le-
bens erfreuen zu wollen. Bejahrte Perſonen brauchen viel, und
ſind insgemein ſo tadelſuͤchtig, daß ihre Begierden weit ſchwerer
zu befriedigen ſind, als in der Jugend. Well man im Alter ſich
und andern nicht laͤſtig ſeyn, und beſtaͤndig uͤber ſeine Tage ſeuf-
zen: ach! ſie gefallen mir nicht! ſo muß man in der Jugend und
in maͤnnlichen Jahren ſich oͤfters fragen: was habe ich jetzt zu
thun, um nach dreißig, vierzig Jahren gern und gut leben zu
koͤnnen?
Zu einem gefaͤlligen und ruͤhmlichen Alter wird folgendes er-
fodert: Man muß Geld oder Vermoͤgen haben, um nicht bloß
andrer Gnade leben zu duͤrfen. Schaͤme ich mich in der Jugend
des
Tiedens Abendand. I. Th. G
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 97[127]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/134>, abgerufen am 24.11.2024.
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