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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 13te Februar.
Ein Mensch, der Pflichten übt
Und deshalb leiden kan:
Sieht Gräber ohne Furcht
Und ohne Sehnsucht an.


Wir müssen unsre Gesundheit bestmöglichst erhalten, und so
lange leben, als es irgend seyn kan. Diese Pflicht aber
würde in Thorheit ausarten, wenn wir ihr alle übrige Tugenden
aufopfern wolten. Es giebt allerdings Fälle, wo wir es so genau
mit Aufopferung von Leben und Gesundheit nicht
nehmen dürfen. Eine kleinere Pflicht muß der höhern immer
nachstehen.

Fast jeder Stand und Beruf erfodert eine gewisse Hintanse-
tzung der Gesundheit und folglich auch des Lebens. Wie thörigt,
wenn die sterbende Rahel den Ehestand verwerflich machen solte!
Wolte der Schiffer die Gefahren zur See, der Schnitter die Er-
hitzung, ein Fischer die Erkältung, oder der Soldat Blut und
Wunden fürchten: was wäre das menschliche Geschlecht? Die
Lebensart der Gelehrten ist höchst ungesund: wollen wir also grosse
Geister ermahnen, daß sie lieber mittelmäßig bleiben, und sich
nicht in nützlichen Schriften verewigen sollen? Lebte jedermann
nur, um recht lange zu leben, so würde, bei der allgemeinen ge-
nauen Diät, unser aller Leben und Wohlstand in Gefahr seyn.
Wer bewachte uns alsdann des Nachts für Räuber? wer hohlte
uns Metalle aus Bergwerken und Arzeneien über das Weltmeer?
Das gemeine Beste muß unserm Privatnutzen vorgezogen werden.
In einer übrigens unsündlichen Lebensart muß man sich der da-
mit verknüpften Gefahr unterziehen; aber freilich sie auch nicht
muthwillig, nicht aus Geitz oder Ruhmsucht vermehren.

Es giebt noch andre Fälle, die eben nicht zu unserm Stande
gehören, und uns dennoch Gesundheit und Leben abfodern. So

bald


Der 13te Februar.
Ein Menſch, der Pflichten uͤbt
Und deshalb leiden kan:
Sieht Graͤber ohne Furcht
Und ohne Sehnſucht an.


Wir muͤſſen unſre Geſundheit beſtmoͤglichſt erhalten, und ſo
lange leben, als es irgend ſeyn kan. Dieſe Pflicht aber
wuͤrde in Thorheit ausarten, wenn wir ihr alle uͤbrige Tugenden
aufopfern wolten. Es giebt allerdings Faͤlle, wo wir es ſo genau
mit Aufopferung von Leben und Geſundheit nicht
nehmen duͤrfen. Eine kleinere Pflicht muß der hoͤhern immer
nachſtehen.

Faſt jeder Stand und Beruf erfodert eine gewiſſe Hintanſe-
tzung der Geſundheit und folglich auch des Lebens. Wie thoͤrigt,
wenn die ſterbende Rahel den Eheſtand verwerflich machen ſolte!
Wolte der Schiffer die Gefahren zur See, der Schnitter die Er-
hitzung, ein Fiſcher die Erkaͤltung, oder der Soldat Blut und
Wunden fuͤrchten: was waͤre das menſchliche Geſchlecht? Die
Lebensart der Gelehrten iſt hoͤchſt ungeſund: wollen wir alſo groſſe
Geiſter ermahnen, daß ſie lieber mittelmaͤßig bleiben, und ſich
nicht in nuͤtzlichen Schriften verewigen ſollen? Lebte jedermann
nur, um recht lange zu leben, ſo wuͤrde, bei der allgemeinen ge-
nauen Diaͤt, unſer aller Leben und Wohlſtand in Gefahr ſeyn.
Wer bewachte uns alsdann des Nachts fuͤr Raͤuber? wer hohlte
uns Metalle aus Bergwerken und Arzeneien uͤber das Weltmeer?
Das gemeine Beſte muß unſerm Privatnutzen vorgezogen werden.
In einer uͤbrigens unſuͤndlichen Lebensart muß man ſich der da-
mit verknuͤpften Gefahr unterziehen; aber freilich ſie auch nicht
muthwillig, nicht aus Geitz oder Ruhmſucht vermehren.

Es giebt noch andre Faͤlle, die eben nicht zu unſerm Stande
gehoͤren, und uns dennoch Geſundheit und Leben abfodern. So

bald
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[91[121]/0128] Der 13te Februar. Ein Menſch, der Pflichten uͤbt Und deshalb leiden kan: Sieht Graͤber ohne Furcht Und ohne Sehnſucht an. Wir muͤſſen unſre Geſundheit beſtmoͤglichſt erhalten, und ſo lange leben, als es irgend ſeyn kan. Dieſe Pflicht aber wuͤrde in Thorheit ausarten, wenn wir ihr alle uͤbrige Tugenden aufopfern wolten. Es giebt allerdings Faͤlle, wo wir es ſo genau mit Aufopferung von Leben und Geſundheit nicht nehmen duͤrfen. Eine kleinere Pflicht muß der hoͤhern immer nachſtehen. Faſt jeder Stand und Beruf erfodert eine gewiſſe Hintanſe- tzung der Geſundheit und folglich auch des Lebens. Wie thoͤrigt, wenn die ſterbende Rahel den Eheſtand verwerflich machen ſolte! Wolte der Schiffer die Gefahren zur See, der Schnitter die Er- hitzung, ein Fiſcher die Erkaͤltung, oder der Soldat Blut und Wunden fuͤrchten: was waͤre das menſchliche Geſchlecht? Die Lebensart der Gelehrten iſt hoͤchſt ungeſund: wollen wir alſo groſſe Geiſter ermahnen, daß ſie lieber mittelmaͤßig bleiben, und ſich nicht in nuͤtzlichen Schriften verewigen ſollen? Lebte jedermann nur, um recht lange zu leben, ſo wuͤrde, bei der allgemeinen ge- nauen Diaͤt, unſer aller Leben und Wohlſtand in Gefahr ſeyn. Wer bewachte uns alsdann des Nachts fuͤr Raͤuber? wer hohlte uns Metalle aus Bergwerken und Arzeneien uͤber das Weltmeer? Das gemeine Beſte muß unſerm Privatnutzen vorgezogen werden. In einer uͤbrigens unſuͤndlichen Lebensart muß man ſich der da- mit verknuͤpften Gefahr unterziehen; aber freilich ſie auch nicht muthwillig, nicht aus Geitz oder Ruhmſucht vermehren. Es giebt noch andre Faͤlle, die eben nicht zu unſerm Stande gehoͤren, und uns dennoch Geſundheit und Leben abfodern. So bald

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 91[121]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/128>, abgerufen am 24.11.2024.