Was ich den Frommen hier gethan, Den Kleinsten auch von diesen, Das siehst du, mein Erlöser! an, Als hätt ichs dir erwiesen. Und ich, ich solt ein Mensch noch seyn, Und dich in Brüdern nicht erfreun?
Es ist viel, mit uneigennütziger Großmuth einen Armen speisen, kleiden und erquicken: aber es ist doch nur eine Fristung oder Erleichterung seines kümmerlichen Lebens. Er kan mehr mit recht von uns fodern, nemlich Errettung seiner Seele. Sein wildes Temperament, seine schlechte Erziehung, seine Dummheit in Religionssachen und seine angewöhnte Laster, werden durch ein Stück Brod oder Geld nicht gehoben, sondern verlangen eine ganz andre Kur. Folglich sind diejenigen, welche blos frieret und hungert, nicht die ärmste Bettler: sondern von Gold und Silber strotzende Lasterknechte verdienen, in Absicht ihrer dürfti- gen Seele, diesen Namen mit weit mehrerm Rechte.
Soll ich meines Bruders Hüter seyn? Diese Ausflucht Cains war abgeschmackt. Freilich solst du es, und deine Ein- sichten und Frömmigkeit müssen so milde seyn, als deine Hand mit dem Gelde. Du mußt mit jenen so wol wuchern, als mit diesem. Lehn also die Pflicht, andre zu erbauen und zu unterrichten, nicht von dir ab, wofern es irgend mit Vortheil unternommen werden kan. Du bist kein Lehrer und Prediger? -- Gut! desto eindringender wird deine unerwartete Lehre seyn. Die elende Ausflucht: daß jene ermahnen müssen, weil sie dafür bezahlt werden, fällt alsdann weg. Zu geschweigen, daß sich die Denkungsart des Lasterhaften weniger vor dir scheuet und ver- birgt. Christen sollen sich unter einander ermahnen, sich bei der
Hand
Der 7te Februar.
Was ich den Frommen hier gethan, Den Kleinſten auch von dieſen, Das ſiehſt du, mein Erloͤſer! an, Als haͤtt ichs dir erwieſen. Und ich, ich ſolt ein Menſch noch ſeyn, Und dich in Bruͤdern nicht erfreun?
Es iſt viel, mit uneigennuͤtziger Großmuth einen Armen ſpeiſen, kleiden und erquicken: aber es iſt doch nur eine Friſtung oder Erleichterung ſeines kuͤmmerlichen Lebens. Er kan mehr mit recht von uns fodern, nemlich Errettung ſeiner Seele. Sein wildes Temperament, ſeine ſchlechte Erziehung, ſeine Dummheit in Religionsſachen und ſeine angewoͤhnte Laſter, werden durch ein Stuͤck Brod oder Geld nicht gehoben, ſondern verlangen eine ganz andre Kur. Folglich ſind diejenigen, welche blos frieret und hungert, nicht die aͤrmſte Bettler: ſondern von Gold und Silber ſtrotzende Laſterknechte verdienen, in Abſicht ihrer duͤrfti- gen Seele, dieſen Namen mit weit mehrerm Rechte.
Soll ich meines Bruders Huͤter ſeyn? Dieſe Ausflucht Cains war abgeſchmackt. Freilich ſolſt du es, und deine Ein- ſichten und Froͤmmigkeit muͤſſen ſo milde ſeyn, als deine Hand mit dem Gelde. Du mußt mit jenen ſo wol wuchern, als mit dieſem. Lehn alſo die Pflicht, andre zu erbauen und zu unterrichten, nicht von dir ab, wofern es irgend mit Vortheil unternommen werden kan. Du biſt kein Lehrer und Prediger? — Gut! deſto eindringender wird deine unerwartete Lehre ſeyn. Die elende Ausflucht: daß jene ermahnen muͤſſen, weil ſie dafuͤr bezahlt werden, faͤllt alsdann weg. Zu geſchweigen, daß ſich die Denkungsart des Laſterhaften weniger vor dir ſcheuet und ver- birgt. Chriſten ſollen ſich unter einander ermahnen, ſich bei der
Hand
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[79[109]/0116]
Der 7te Februar.
Was ich den Frommen hier gethan,
Den Kleinſten auch von dieſen,
Das ſiehſt du, mein Erloͤſer! an,
Als haͤtt ichs dir erwieſen.
Und ich, ich ſolt ein Menſch noch ſeyn,
Und dich in Bruͤdern nicht erfreun?
Es iſt viel, mit uneigennuͤtziger Großmuth einen Armen ſpeiſen,
kleiden und erquicken: aber es iſt doch nur eine Friſtung oder
Erleichterung ſeines kuͤmmerlichen Lebens. Er kan mehr mit
recht von uns fodern, nemlich Errettung ſeiner Seele. Sein
wildes Temperament, ſeine ſchlechte Erziehung, ſeine Dummheit
in Religionsſachen und ſeine angewoͤhnte Laſter, werden durch ein
Stuͤck Brod oder Geld nicht gehoben, ſondern verlangen eine
ganz andre Kur. Folglich ſind diejenigen, welche blos frieret
und hungert, nicht die aͤrmſte Bettler: ſondern von Gold und
Silber ſtrotzende Laſterknechte verdienen, in Abſicht ihrer duͤrfti-
gen Seele, dieſen Namen mit weit mehrerm Rechte.
Soll ich meines Bruders Huͤter ſeyn? Dieſe Ausflucht
Cains war abgeſchmackt. Freilich ſolſt du es, und deine Ein-
ſichten und Froͤmmigkeit muͤſſen ſo milde ſeyn, als deine Hand
mit dem Gelde. Du mußt mit jenen ſo wol wuchern, als mit
dieſem. Lehn alſo die Pflicht, andre zu erbauen und zu
unterrichten, nicht von dir ab, wofern es irgend mit Vortheil
unternommen werden kan. Du biſt kein Lehrer und Prediger?
— Gut! deſto eindringender wird deine unerwartete Lehre ſeyn.
Die elende Ausflucht: daß jene ermahnen muͤſſen, weil ſie dafuͤr
bezahlt werden, faͤllt alsdann weg. Zu geſchweigen, daß ſich
die Denkungsart des Laſterhaften weniger vor dir ſcheuet und ver-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 79[109]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/116>, abgerufen am 25.11.2024.
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