Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Man könnte, antwortete Franz, dieses
Gemählde ein allegorisches nennen.

Alle Kunst ist allegorisch, sagte der Mah¬
ler, wie Ihr es nehmt. Was kann der
Mensch darstellen, einzig und für sich beste¬
hend, abgesondert und ewig geschieden von
der übrigen Welt, wie wir die Gegenstände
vor uns sehn? Die Kunst soll es auch nicht:
wir fügen zusammen, wir suchen dem Ein¬
zelnen einen allgemeinen Sinn aufzuheften,
und so entsteht die Allegorie. Das Wort
bezeichnet nichts anders als die wahrhafte
Poesie, die das Hohe und Edle sucht, und
es nur auf diesem Wege finden kann.

Unter diesen Gesprächen war ein Hänf¬
ling unvermerkt aus seinem Käfig entwischt,
der Alte hatte die Thür in der Zerstreuung
offen gelassen. Er schrie erschreckend auf,
als er seinen Verlust bemerkte, er suchte
umher, er öffnete das Fenster, und lockte

Man könnte, antwortete Franz, dieſes
Gemählde ein allegoriſches nennen.

Alle Kunſt iſt allegoriſch, ſagte der Mah¬
ler, wie Ihr es nehmt. Was kann der
Menſch darſtellen, einzig und für ſich beſte¬
hend, abgeſondert und ewig geſchieden von
der übrigen Welt, wie wir die Gegenſtände
vor uns ſehn? Die Kunſt ſoll es auch nicht:
wir fügen zuſammen, wir ſuchen dem Ein¬
zelnen einen allgemeinen Sinn aufzuheften,
und ſo entſteht die Allegorie. Das Wort
bezeichnet nichts anders als die wahrhafte
Poeſie, die das Hohe und Edle ſucht, und
es nur auf dieſem Wege finden kann.

Unter dieſen Geſprächen war ein Hänf¬
ling unvermerkt aus ſeinem Käfig entwiſcht,
der Alte hatte die Thür in der Zerſtreuung
offen gelaſſen. Er ſchrie erſchreckend auf,
als er ſeinen Verluſt bemerkte, er ſuchte
umher, er öffnete das Fenſter, und lockte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0132" n="124"/>
          <p>Man könnte, antwortete Franz, die&#x017F;es<lb/>
Gemählde ein allegori&#x017F;ches nennen.</p><lb/>
          <p>Alle Kun&#x017F;t i&#x017F;t allegori&#x017F;ch, &#x017F;agte der Mah¬<lb/>
ler, wie Ihr es nehmt. Was kann der<lb/>
Men&#x017F;ch dar&#x017F;tellen, einzig und für &#x017F;ich be&#x017F;te¬<lb/>
hend, abge&#x017F;ondert und ewig ge&#x017F;chieden von<lb/>
der übrigen Welt, wie wir die Gegen&#x017F;tände<lb/>
vor uns &#x017F;ehn? Die Kun&#x017F;t &#x017F;oll es auch nicht:<lb/>
wir fügen zu&#x017F;ammen, wir &#x017F;uchen dem Ein¬<lb/>
zelnen einen allgemeinen Sinn aufzuheften,<lb/>
und &#x017F;o ent&#x017F;teht die Allegorie. Das Wort<lb/>
bezeichnet nichts anders als die wahrhafte<lb/>
Poe&#x017F;ie, die das Hohe und Edle &#x017F;ucht, und<lb/>
es nur auf die&#x017F;em Wege finden kann.</p><lb/>
          <p>Unter die&#x017F;en Ge&#x017F;prächen war ein Hänf¬<lb/>
ling unvermerkt aus &#x017F;einem Käfig entwi&#x017F;cht,<lb/>
der Alte hatte die Thür in der Zer&#x017F;treuung<lb/>
offen gela&#x017F;&#x017F;en. Er &#x017F;chrie er&#x017F;chreckend auf,<lb/>
als er &#x017F;einen Verlu&#x017F;t bemerkte, er &#x017F;uchte<lb/>
umher, er öffnete das Fen&#x017F;ter, und lockte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0132] Man könnte, antwortete Franz, dieſes Gemählde ein allegoriſches nennen. Alle Kunſt iſt allegoriſch, ſagte der Mah¬ ler, wie Ihr es nehmt. Was kann der Menſch darſtellen, einzig und für ſich beſte¬ hend, abgeſondert und ewig geſchieden von der übrigen Welt, wie wir die Gegenſtände vor uns ſehn? Die Kunſt ſoll es auch nicht: wir fügen zuſammen, wir ſuchen dem Ein¬ zelnen einen allgemeinen Sinn aufzuheften, und ſo entſteht die Allegorie. Das Wort bezeichnet nichts anders als die wahrhafte Poeſie, die das Hohe und Edle ſucht, und es nur auf dieſem Wege finden kann. Unter dieſen Geſprächen war ein Hänf¬ ling unvermerkt aus ſeinem Käfig entwiſcht, der Alte hatte die Thür in der Zerſtreuung offen gelaſſen. Er ſchrie erſchreckend auf, als er ſeinen Verluſt bemerkte, er ſuchte umher, er öffnete das Fenſter, und lockte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798/132
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798/132>, abgerufen am 27.11.2024.