Wenn ich an die reizenden Züge denke, an diese heilige Unschuld ihrer Augen, diese zar¬ ten Wangen. -- wenigstens möcht' ich ein Gemälde, ein treues, einfaches der jetzigen Gestalt besitzen. Tod und Trennung sind es nicht allein die wir zu bejammern ha¬ ben; sollte man nicht jeden dieser süßen Zü¬ ge, jede dieser sanften Linien beweinen, die die Zeit nach und nach vertilgt, der unge¬ schickte Künstler der sein Bild verdirbt, das er erst so schön ausgearbeitet hatte. Ich sehe sie vielleicht nach vielen, vielen Jahren wieder, vielleicht auch nie. Es giebt ein Lied eines alten Minnesängers, ich weiß nicht, ob Du Dich dessen noch erinnerst.
Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald, Da steht der rothe frische Morgen, Entlade Dich der bangen Sorgen Und sing' ein Lied das fröhlich durch die Zweige schallt.
Wenn ich an die reizenden Züge denke, an dieſe heilige Unſchuld ihrer Augen, dieſe zar¬ ten Wangen. — wenigſtens möcht' ich ein Gemälde, ein treues, einfaches der jetzigen Geſtalt beſitzen. Tod und Trennung ſind es nicht allein die wir zu bejammern ha¬ ben; ſollte man nicht jeden dieſer ſüßen Zü¬ ge, jede dieſer ſanften Linien beweinen, die die Zeit nach und nach vertilgt, der unge¬ ſchickte Künſtler der ſein Bild verdirbt, das er erſt ſo ſchön ausgearbeitet hatte. Ich ſehe ſie vielleicht nach vielen, vielen Jahren wieder, vielleicht auch nie. Es giebt ein Lied eines alten Minneſängers, ich weiß nicht, ob Du Dich deſſen noch erinnerſt.
Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald, Da ſteht der rothe friſche Morgen, Entlade Dich der bangen Sorgen Und ſing' ein Lied das fröhlich durch die Zweige ſchallt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0160"n="149"/><p>Wenn ich an die reizenden Züge denke, an<lb/>
dieſe heilige Unſchuld ihrer Augen, dieſe zar¬<lb/>
ten Wangen. — wenigſtens möcht' ich ein<lb/>
Gemälde, ein treues, einfaches der jetzigen<lb/>
Geſtalt beſitzen. Tod und Trennung ſind<lb/>
es nicht allein die wir zu bejammern ha¬<lb/>
ben; ſollte man nicht jeden dieſer ſüßen Zü¬<lb/>
ge, jede dieſer ſanften Linien beweinen, die<lb/>
die Zeit nach und nach vertilgt, der unge¬<lb/>ſchickte Künſtler der ſein Bild verdirbt, das<lb/>
er erſt ſo ſchön ausgearbeitet hatte. Ich<lb/>ſehe ſie vielleicht nach vielen, vielen Jahren<lb/>
wieder, vielleicht auch nie. Es giebt ein<lb/>
Lied eines alten Minneſängers, ich weiß<lb/>
nicht, ob Du Dich deſſen noch erinnerſt.</p><lb/><lgtype="poem"><lgn="1"><l>Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald,</l><lb/><l>Da ſteht der rothe friſche Morgen,</l><lb/><l>Entlade Dich der bangen Sorgen</l><lb/><l>Und ſing' ein Lied das fröhlich durch die Zweige</l><lb/><l>ſchallt.</l><lb/></lg></lg></div></div></div></body></text></TEI>
[149/0160]
Wenn ich an die reizenden Züge denke, an
dieſe heilige Unſchuld ihrer Augen, dieſe zar¬
ten Wangen. — wenigſtens möcht' ich ein
Gemälde, ein treues, einfaches der jetzigen
Geſtalt beſitzen. Tod und Trennung ſind
es nicht allein die wir zu bejammern ha¬
ben; ſollte man nicht jeden dieſer ſüßen Zü¬
ge, jede dieſer ſanften Linien beweinen, die
die Zeit nach und nach vertilgt, der unge¬
ſchickte Künſtler der ſein Bild verdirbt, das
er erſt ſo ſchön ausgearbeitet hatte. Ich
ſehe ſie vielleicht nach vielen, vielen Jahren
wieder, vielleicht auch nie. Es giebt ein
Lied eines alten Minneſängers, ich weiß
nicht, ob Du Dich deſſen noch erinnerſt.
Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald,
Da ſteht der rothe friſche Morgen,
Entlade Dich der bangen Sorgen
Und ſing' ein Lied das fröhlich durch die Zweige
ſchallt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald01_1798/160>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.