Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.Zweite Abtheilung. Hofmarschall. Ihr drückt Euch hart aus, edler Herr, die Sache Ist neuerdings von unserm Philosophen Dem Herren Raimund, jetzgen Staatsminister, Erdacht, aus vielen und höchst triftgen Gründen. Der Staat, die Kirche, Sitte Kunst, Gesellschaft, Das alles ist nur dadurch möglich worden, Daß wir uns allgemach von des Naturstands Ursprünglichkeit entfernten mehr und mehr, Noch liegt vor uns ein unbekanntes Ziel, Wo dann vollendet hoch die Menschheit thront. Ihr müßt gestehn, daß keiner wagen würde, Wenn er nicht frech und ohne Schaam und Sitte, Den Hof in seiner Nacktheit zu besuchen: Wie Schaam die erste Tugend unsers Wesens, So hat man sich mit Recht verwundern müssen, Daß wir bisher ganz sorglos, dreisten Muthes, Die Form des Menschen nur umkleideten, Und jeder Schritt, Bewegen, Sitzen, Stehn, Uns daran mahnte, daß wir Menschen sind; Ging nicht das Kleid in jede Biegung, Schmiegung Gefällig mit, um schlimmer noch als nackt Uns darzustellen, und den Sinn zu irren? Doch jetzt hat unsre Kunst erlangt, den Menschen So zu verkleiden, daß man ihn nicht kennt, Er sieht fast jedem Wesen ähnlicher Als sich: das ist es, was wir haben wollten. Raimund. (tritt zu ihnen.) Ja, man darf hoffen, daß auf Politik, Philosophie und alle Wissenschaften Nun das Gefühl der Züchtigkeit wird wirken, Hauptsächlich doch auf Kunst und Poesie, Es wird das Ideal uns näher treten, Zweite Abtheilung. Hofmarſchall. Ihr druͤckt Euch hart aus, edler Herr, die Sache Iſt neuerdings von unſerm Philoſophen Dem Herren Raimund, jetzgen Staatsminiſter, Erdacht, aus vielen und hoͤchſt triftgen Gruͤnden. Der Staat, die Kirche, Sitte Kunſt, Geſellſchaft, Das alles iſt nur dadurch moͤglich worden, Daß wir uns allgemach von des Naturſtands Urſpruͤnglichkeit entfernten mehr und mehr, Noch liegt vor uns ein unbekanntes Ziel, Wo dann vollendet hoch die Menſchheit thront. Ihr muͤßt geſtehn, daß keiner wagen wuͤrde, Wenn er nicht frech und ohne Schaam und Sitte, Den Hof in ſeiner Nacktheit zu beſuchen: Wie Schaam die erſte Tugend unſers Weſens, So hat man ſich mit Recht verwundern muͤſſen, Daß wir bisher ganz ſorglos, dreiſten Muthes, Die Form des Menſchen nur umkleideten, Und jeder Schritt, Bewegen, Sitzen, Stehn, Uns daran mahnte, daß wir Menſchen ſind; Ging nicht das Kleid in jede Biegung, Schmiegung Gefaͤllig mit, um ſchlimmer noch als nackt Uns darzuſtellen, und den Sinn zu irren? Doch jetzt hat unſre Kunſt erlangt, den Menſchen So zu verkleiden, daß man ihn nicht kennt, Er ſieht faſt jedem Weſen aͤhnlicher Als ſich: das iſt es, was wir haben wollten. Raimund. (tritt zu ihnen.) Ja, man darf hoffen, daß auf Politik, Philoſophie und alle Wiſſenſchaften Nun das Gefuͤhl der Zuͤchtigkeit wird wirken, Hauptſaͤchlich doch auf Kunſt und Poeſie, Es wird das Ideal uns naͤher treten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0430" n="420"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> <sp who="#Hofmarſchall"> <speaker><hi rendition="#g">Hofmarſchall</hi>.</speaker><lb/> <p>Ihr druͤckt Euch hart aus, edler Herr, die Sache<lb/> Iſt neuerdings von unſerm Philoſophen<lb/> Dem Herren Raimund, jetzgen Staatsminiſter,<lb/> Erdacht, aus vielen und hoͤchſt triftgen Gruͤnden.<lb/> Der Staat, die Kirche, Sitte Kunſt, Geſellſchaft,<lb/> Das alles iſt nur dadurch moͤglich worden,<lb/> Daß wir uns allgemach von des Naturſtands<lb/> Urſpruͤnglichkeit entfernten mehr und mehr,<lb/> Noch liegt vor uns ein unbekanntes Ziel,<lb/> Wo dann vollendet hoch die Menſchheit thront.<lb/> Ihr muͤßt geſtehn, daß keiner wagen wuͤrde,<lb/> Wenn er nicht frech und ohne Schaam und Sitte,<lb/> Den Hof in ſeiner Nacktheit zu beſuchen:<lb/> Wie Schaam die erſte Tugend unſers Weſens,<lb/> So hat man ſich mit Recht verwundern muͤſſen,<lb/> Daß wir bisher ganz ſorglos, dreiſten Muthes,<lb/> Die Form des Menſchen nur umkleideten,<lb/> Und jeder Schritt, Bewegen, Sitzen, Stehn,<lb/> Uns daran mahnte, daß wir Menſchen ſind;<lb/> Ging nicht das Kleid in jede Biegung, Schmiegung<lb/> Gefaͤllig mit, um ſchlimmer noch als nackt<lb/> Uns darzuſtellen, und den Sinn zu irren?<lb/> Doch jetzt hat unſre Kunſt erlangt, den Menſchen<lb/> So zu verkleiden, daß man ihn nicht kennt,<lb/> Er ſieht faſt jedem Weſen aͤhnlicher<lb/> Als ſich: das iſt es, was wir haben wollten.</p> </sp><lb/> <sp who="#Raimund"> <speaker><hi rendition="#g">Raimund</hi>.</speaker> <stage>(tritt zu ihnen.)</stage><lb/> <p>Ja, man darf hoffen, daß auf Politik,<lb/> Philoſophie und alle Wiſſenſchaften<lb/> Nun das Gefuͤhl der Zuͤchtigkeit wird wirken,<lb/> Hauptſaͤchlich doch auf Kunſt und Poeſie,<lb/> Es wird das Ideal uns naͤher treten,<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [420/0430]
Zweite Abtheilung.
Hofmarſchall.
Ihr druͤckt Euch hart aus, edler Herr, die Sache
Iſt neuerdings von unſerm Philoſophen
Dem Herren Raimund, jetzgen Staatsminiſter,
Erdacht, aus vielen und hoͤchſt triftgen Gruͤnden.
Der Staat, die Kirche, Sitte Kunſt, Geſellſchaft,
Das alles iſt nur dadurch moͤglich worden,
Daß wir uns allgemach von des Naturſtands
Urſpruͤnglichkeit entfernten mehr und mehr,
Noch liegt vor uns ein unbekanntes Ziel,
Wo dann vollendet hoch die Menſchheit thront.
Ihr muͤßt geſtehn, daß keiner wagen wuͤrde,
Wenn er nicht frech und ohne Schaam und Sitte,
Den Hof in ſeiner Nacktheit zu beſuchen:
Wie Schaam die erſte Tugend unſers Weſens,
So hat man ſich mit Recht verwundern muͤſſen,
Daß wir bisher ganz ſorglos, dreiſten Muthes,
Die Form des Menſchen nur umkleideten,
Und jeder Schritt, Bewegen, Sitzen, Stehn,
Uns daran mahnte, daß wir Menſchen ſind;
Ging nicht das Kleid in jede Biegung, Schmiegung
Gefaͤllig mit, um ſchlimmer noch als nackt
Uns darzuſtellen, und den Sinn zu irren?
Doch jetzt hat unſre Kunſt erlangt, den Menſchen
So zu verkleiden, daß man ihn nicht kennt,
Er ſieht faſt jedem Weſen aͤhnlicher
Als ſich: das iſt es, was wir haben wollten.
Raimund. (tritt zu ihnen.)
Ja, man darf hoffen, daß auf Politik,
Philoſophie und alle Wiſſenſchaften
Nun das Gefuͤhl der Zuͤchtigkeit wird wirken,
Hauptſaͤchlich doch auf Kunſt und Poeſie,
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