Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweite Abtheilung.
empfehle mich, da kein Recht noch Gerechtigkeit hier
zu finden ist.
(geht ab.)
1.Rath. Sonderbare Menschen! Was giebt
es denn noch zu klagen?
4.Kläger. Seht mich an, meine Herren!
Nicht wahr, ich bin ein Schauspiel zum Erbarmen?
Ein Bein verloren, einen Arm zu wenig, den Kopf
bepflastert und voll Wunden, die Nase lädirt, ein
Auge ausgestoßen, und mein ganzer noch übriger
Leichnam so dick vernarbt, wie die Rinde einer alten
Eiche. Bei jeder Wetteränderung spüre ich meine
Wunden. Ists nicht kläglich?
1.Rath. Warum sind Sie aber so zerhackt
und fragmentirt worden?
4.Kläger. Richtig, ein Auszug, ein Epi-
tome eines Menschen bin ich nur noch, eine abge-
kürzte Uebersicht, eine philosophische Reduktion,
denn was ich nur irgend habe entbehren können,
was nicht zum äußersten Bedarf war, hat man mir
abgenommen: und wer ist Schuld, als jene böse
Sieben, die mir Stärke und Tapferkeit verlieh,
mich aber dafür so wie eine gestuzte Weide hat be-
hauen lassen.
Fortuna. Nicht ich! dieser Mann konnte
sich begnügen mit dem Ruhm seines Muthes; aus
vielen Gefechten war er glücklich und unbeschädigt
gekommen, er war ein geliebter Anführer; aber er
konnte nicht ruhen, wo er nur von Händeln und
Zweite Abtheilung.
empfehle mich, da kein Recht noch Gerechtigkeit hier
zu finden iſt.
(geht ab.)
1.Rath. Sonderbare Menſchen! Was giebt
es denn noch zu klagen?
4.Klaͤger. Seht mich an, meine Herren!
Nicht wahr, ich bin ein Schauſpiel zum Erbarmen?
Ein Bein verloren, einen Arm zu wenig, den Kopf
bepflaſtert und voll Wunden, die Naſe laͤdirt, ein
Auge ausgeſtoßen, und mein ganzer noch uͤbriger
Leichnam ſo dick vernarbt, wie die Rinde einer alten
Eiche. Bei jeder Wetteraͤnderung ſpuͤre ich meine
Wunden. Iſts nicht klaͤglich?
1.Rath. Warum ſind Sie aber ſo zerhackt
und fragmentirt worden?
4.Klaͤger. Richtig, ein Auszug, ein Epi-
tome eines Menſchen bin ich nur noch, eine abge-
kuͤrzte Ueberſicht, eine philoſophiſche Reduktion,
denn was ich nur irgend habe entbehren koͤnnen,
was nicht zum aͤußerſten Bedarf war, hat man mir
abgenommen: und wer iſt Schuld, als jene boͤſe
Sieben, die mir Staͤrke und Tapferkeit verlieh,
mich aber dafuͤr ſo wie eine geſtuzte Weide hat be-
hauen laſſen.
Fortuna. Nicht ich! dieſer Mann konnte
ſich begnuͤgen mit dem Ruhm ſeines Muthes; aus
vielen Gefechten war er gluͤcklich und unbeſchaͤdigt
gekommen, er war ein geliebter Anfuͤhrer; aber er
konnte nicht ruhen, wo er nur von Haͤndeln und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <sp who="#3Kla&#x0364;ger">
              <p><pb facs="#f0269" n="259"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
empfehle mich, da kein Recht noch Gerechtigkeit hier<lb/>
zu finden i&#x017F;t.</p>
              <stage>(geht ab.)</stage>
            </sp><lb/>
            <sp who="#1Rath">
              <speaker>1.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker>
              <p>Sonderbare Men&#x017F;chen! Was giebt<lb/>
es denn noch zu klagen?</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#4Kla&#x0364;ger">
              <speaker>4.<hi rendition="#g">Kla&#x0364;ger</hi>.</speaker>
              <p>Seht mich an, meine Herren!<lb/>
Nicht wahr, ich bin ein Schau&#x017F;piel zum Erbarmen?<lb/>
Ein Bein verloren, einen Arm zu wenig, den Kopf<lb/>
bepfla&#x017F;tert und voll Wunden, die Na&#x017F;e la&#x0364;dirt, ein<lb/>
Auge ausge&#x017F;toßen, und mein ganzer noch u&#x0364;briger<lb/>
Leichnam &#x017F;o dick vernarbt, wie die Rinde einer alten<lb/>
Eiche. Bei jeder Wettera&#x0364;nderung &#x017F;pu&#x0364;re ich meine<lb/>
Wunden. I&#x017F;ts nicht kla&#x0364;glich?</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#1Rath">
              <speaker>1.<hi rendition="#g">Rath</hi>.</speaker>
              <p>Warum &#x017F;ind Sie aber &#x017F;o zerhackt<lb/>
und fragmentirt worden?</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#4Kla&#x0364;ger">
              <speaker>4.<hi rendition="#g">Kla&#x0364;ger</hi>.</speaker>
              <p>Richtig, ein Auszug, ein Epi-<lb/>
tome eines Men&#x017F;chen bin ich nur noch, eine abge-<lb/>
ku&#x0364;rzte Ueber&#x017F;icht, eine philo&#x017F;ophi&#x017F;che Reduktion,<lb/>
denn was ich nur irgend habe entbehren ko&#x0364;nnen,<lb/>
was nicht zum a&#x0364;ußer&#x017F;ten Bedarf war, hat man mir<lb/>
abgenommen: und wer i&#x017F;t Schuld, als jene bo&#x0364;&#x017F;e<lb/>
Sieben, die mir Sta&#x0364;rke und Tapferkeit verlieh,<lb/>
mich aber dafu&#x0364;r &#x017F;o wie eine ge&#x017F;tuzte Weide hat be-<lb/>
hauen la&#x017F;&#x017F;en.</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#Fortuna">
              <speaker><hi rendition="#g">Fortuna</hi>.</speaker>
              <p>Nicht ich! die&#x017F;er Mann konnte<lb/>
&#x017F;ich begnu&#x0364;gen mit dem Ruhm &#x017F;eines Muthes; aus<lb/>
vielen Gefechten war er glu&#x0364;cklich und unbe&#x017F;cha&#x0364;digt<lb/>
gekommen, er war ein geliebter Anfu&#x0364;hrer; aber er<lb/>
konnte nicht ruhen, wo er nur von Ha&#x0364;ndeln und<lb/></p>
            </sp>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0269] Zweite Abtheilung. empfehle mich, da kein Recht noch Gerechtigkeit hier zu finden iſt. (geht ab.) 1.Rath. Sonderbare Menſchen! Was giebt es denn noch zu klagen? 4.Klaͤger. Seht mich an, meine Herren! Nicht wahr, ich bin ein Schauſpiel zum Erbarmen? Ein Bein verloren, einen Arm zu wenig, den Kopf bepflaſtert und voll Wunden, die Naſe laͤdirt, ein Auge ausgeſtoßen, und mein ganzer noch uͤbriger Leichnam ſo dick vernarbt, wie die Rinde einer alten Eiche. Bei jeder Wetteraͤnderung ſpuͤre ich meine Wunden. Iſts nicht klaͤglich? 1.Rath. Warum ſind Sie aber ſo zerhackt und fragmentirt worden? 4.Klaͤger. Richtig, ein Auszug, ein Epi- tome eines Menſchen bin ich nur noch, eine abge- kuͤrzte Ueberſicht, eine philoſophiſche Reduktion, denn was ich nur irgend habe entbehren koͤnnen, was nicht zum aͤußerſten Bedarf war, hat man mir abgenommen: und wer iſt Schuld, als jene boͤſe Sieben, die mir Staͤrke und Tapferkeit verlieh, mich aber dafuͤr ſo wie eine geſtuzte Weide hat be- hauen laſſen. Fortuna. Nicht ich! dieſer Mann konnte ſich begnuͤgen mit dem Ruhm ſeines Muthes; aus vielen Gefechten war er gluͤcklich und unbeſchaͤdigt gekommen, er war ein geliebter Anfuͤhrer; aber er konnte nicht ruhen, wo er nur von Haͤndeln und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/269
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/269>, abgerufen am 22.11.2024.