Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweite Abtheilung.

Als Ernst seine Vorlesung geendigt hatte,
sagte er: ich bin gewahr geworden, daß das
Stück etwas lange währt, auch ist mir mehr
als einmal die Furcht angekommen, es möchte
durch meine Darstellung die leichtfüßige Grazie
der alten Erzählung gelitten haben.

Wir behaupteten ja neulich, sagte Lothar,
daß das Drama nur dadurch entstehn und ge-
winnen könne, wenn die Novelle verliere; es
fragte sich also nur, ob in dem neuen Ge-
biete so viel oder mehr ist erobert worden, als
man auf dem alten freiwillig hat einbüßen müs-
sen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzähler
die alte liebe Geschichte besser und unschuldiger
vortragen könne, im Schauspiel muß die Lustig-
keit von selbst herber, die Figuren müssen schär-
fer gefaßt werden, vorzüglich aber müssen die
beiden Theile, in welche die Geschichte zerfällt,
greller gegen einander kontrastiren; die erste wird
immer noch etwas vom epischen Charakter behal-
ten, wenn der zweite sich ganz in das Phanta-
stische und Ausschweifende neigt, welches das
Tragische nicht ausschließt.

Mir schien immer, fuhr Manfred fort, dieser
Gegenstand, vorzüglich die erste Hälfte, ganz un-
dramatisch zu seyn: unser Freund hat zwar durch
einige Veränderungen des Gegenstandes der
Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er
hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine
eigene fast für sich bestehende Geschichte vorge-
Zweite Abtheilung.

Als Ernſt ſeine Vorleſung geendigt hatte,
ſagte er: ich bin gewahr geworden, daß das
Stuͤck etwas lange waͤhrt, auch iſt mir mehr
als einmal die Furcht angekommen, es moͤchte
durch meine Darſtellung die leichtfuͤßige Grazie
der alten Erzaͤhlung gelitten haben.

Wir behaupteten ja neulich, ſagte Lothar,
daß das Drama nur dadurch entſtehn und ge-
winnen koͤnne, wenn die Novelle verliere; es
fragte ſich alſo nur, ob in dem neuen Ge-
biete ſo viel oder mehr iſt erobert worden, als
man auf dem alten freiwillig hat einbuͤßen muͤſ-
ſen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzaͤhler
die alte liebe Geſchichte beſſer und unſchuldiger
vortragen koͤnne, im Schauſpiel muß die Luſtig-
keit von ſelbſt herber, die Figuren muͤſſen ſchaͤr-
fer gefaßt werden, vorzuͤglich aber muͤſſen die
beiden Theile, in welche die Geſchichte zerfaͤllt,
greller gegen einander kontraſtiren; die erſte wird
immer noch etwas vom epiſchen Charakter behal-
ten, wenn der zweite ſich ganz in das Phanta-
ſtiſche und Ausſchweifende neigt, welches das
Tragiſche nicht ausſchließt.

Mir ſchien immer, fuhr Manfred fort, dieſer
Gegenſtand, vorzuͤglich die erſte Haͤlfte, ganz un-
dramatiſch zu ſeyn: unſer Freund hat zwar durch
einige Veraͤnderungen des Gegenſtandes der
Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er
hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine
eigene faſt fuͤr ſich beſtehende Geſchichte vorge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <sp who="#VAL">
                <pb facs="#f0232" n="222"/>
                <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
                <p>Als Ern&#x017F;t &#x017F;eine Vorle&#x017F;ung geendigt hatte,<lb/>
&#x017F;agte er: ich bin gewahr geworden, daß das<lb/>
Stu&#x0364;ck etwas lange wa&#x0364;hrt, auch i&#x017F;t mir mehr<lb/>
als einmal die Furcht angekommen, es mo&#x0364;chte<lb/>
durch meine Dar&#x017F;tellung die leichtfu&#x0364;ßige Grazie<lb/>
der alten Erza&#x0364;hlung gelitten haben.</p><lb/>
                <p>Wir behaupteten ja neulich, &#x017F;agte Lothar,<lb/>
daß das Drama nur dadurch ent&#x017F;tehn und ge-<lb/>
winnen ko&#x0364;nne, wenn die Novelle verliere; es<lb/>
fragte &#x017F;ich al&#x017F;o nur, ob in dem neuen Ge-<lb/>
biete &#x017F;o viel oder mehr i&#x017F;t erobert worden, als<lb/>
man auf dem alten freiwillig hat einbu&#x0364;ßen mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erza&#x0364;hler<lb/>
die alte liebe Ge&#x017F;chichte be&#x017F;&#x017F;er und un&#x017F;chuldiger<lb/>
vortragen ko&#x0364;nne, im Schau&#x017F;piel muß die Lu&#x017F;tig-<lb/>
keit von &#x017F;elb&#x017F;t herber, die Figuren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;cha&#x0364;r-<lb/>
fer gefaßt werden, vorzu&#x0364;glich aber mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die<lb/>
beiden Theile, in welche die Ge&#x017F;chichte zerfa&#x0364;llt,<lb/>
greller gegen einander kontra&#x017F;tiren; die er&#x017F;te wird<lb/>
immer noch etwas vom epi&#x017F;chen Charakter behal-<lb/>
ten, wenn der zweite &#x017F;ich ganz in das Phanta-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;che und Aus&#x017F;chweifende neigt, welches das<lb/>
Tragi&#x017F;che nicht aus&#x017F;chließt.</p><lb/>
                <p>Mir &#x017F;chien immer, fuhr Manfred fort, die&#x017F;er<lb/>
Gegen&#x017F;tand, vorzu&#x0364;glich die er&#x017F;te Ha&#x0364;lfte, ganz un-<lb/>
dramati&#x017F;ch zu &#x017F;eyn: un&#x017F;er Freund hat zwar durch<lb/>
einige Vera&#x0364;nderungen des Gegen&#x017F;tandes der<lb/>
Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er<lb/>
hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine<lb/>
eigene fa&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;tehende Ge&#x017F;chichte vorge-<lb/></p>
              </sp>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0232] Zweite Abtheilung. Als Ernſt ſeine Vorleſung geendigt hatte, ſagte er: ich bin gewahr geworden, daß das Stuͤck etwas lange waͤhrt, auch iſt mir mehr als einmal die Furcht angekommen, es moͤchte durch meine Darſtellung die leichtfuͤßige Grazie der alten Erzaͤhlung gelitten haben. Wir behaupteten ja neulich, ſagte Lothar, daß das Drama nur dadurch entſtehn und ge- winnen koͤnne, wenn die Novelle verliere; es fragte ſich alſo nur, ob in dem neuen Ge- biete ſo viel oder mehr iſt erobert worden, als man auf dem alten freiwillig hat einbuͤßen muͤſ- ſen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzaͤhler die alte liebe Geſchichte beſſer und unſchuldiger vortragen koͤnne, im Schauſpiel muß die Luſtig- keit von ſelbſt herber, die Figuren muͤſſen ſchaͤr- fer gefaßt werden, vorzuͤglich aber muͤſſen die beiden Theile, in welche die Geſchichte zerfaͤllt, greller gegen einander kontraſtiren; die erſte wird immer noch etwas vom epiſchen Charakter behal- ten, wenn der zweite ſich ganz in das Phanta- ſtiſche und Ausſchweifende neigt, welches das Tragiſche nicht ausſchließt. Mir ſchien immer, fuhr Manfred fort, dieſer Gegenſtand, vorzuͤglich die erſte Haͤlfte, ganz un- dramatiſch zu ſeyn: unſer Freund hat zwar durch einige Veraͤnderungen des Gegenſtandes der Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine eigene faſt fuͤr ſich beſtehende Geſchichte vorge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/232
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/232>, abgerufen am 22.11.2024.