mater vortragen zu hören. Die Lieblichkeit der Wehmuth in des Schmerzes Tiefe, dies Lächeln in Thränen, diese Kindlichkeit, die den höchsten Himmel anrührt, ist mir noch niemals so licht in der Seele aufgegangen. Ich habe mich ab- wenden müssen, und meine Thränen verbergen, vorzüglich bei der Stelle: vidit suum dulcem natum. Wie sinnvoll, daß das Amen, nach dem alles schon beschlossen ist, noch in sich selbst klingt und spielt, und in herzlicher Rührung kein Ende finden kann, sich gleichsam vor dem Trocknen der Thränen fürchtet, und sich im Schluchzen noch fühlen will.
Das Gedicht selbst, sagte Friedrich, ist rüh- rend und tief eindringlich, gewiß hat der Dich- ter diese Reimspiele quae moerebat, et dolebat cum videbat mit bewegtem Gemüth gesungen. Weiß man seinen Ursprung nicht?
Den Dichter selbst, antwortete Ernst, kann man namentlich nicht nennen. Dieser Hymnus aber entstand zu einer Zeit, als die Menschen kein Genügen mehr fanden an dem, was sie um sich geschehn sahen, als die Hofnung auf welt- liche Kraft ihnen entwich, und die Vernunft ihnen keinen Trost mehr darbot. Da wandten sie sich mit zerknirschtem Herzen unmittelbar an den Unsichtbaren; unter Thränen und Seufzern machten sich Städte und Dörfer im weißen Ge- wande auf, und durchzogen mit Bußpsalmen und Gebeten die Provinzen. Vom südlichen
Zweite Abtheilung.
mater vortragen zu hoͤren. Die Lieblichkeit der Wehmuth in des Schmerzes Tiefe, dies Laͤcheln in Thraͤnen, dieſe Kindlichkeit, die den hoͤchſten Himmel anruͤhrt, iſt mir noch niemals ſo licht in der Seele aufgegangen. Ich habe mich ab- wenden muͤſſen, und meine Thraͤnen verbergen, vorzuͤglich bei der Stelle: vidit suum dulcem natum. Wie ſinnvoll, daß das Amen, nach dem alles ſchon beſchloſſen iſt, noch in ſich ſelbſt klingt und ſpielt, und in herzlicher Ruͤhrung kein Ende finden kann, ſich gleichſam vor dem Trocknen der Thraͤnen fuͤrchtet, und ſich im Schluchzen noch fuͤhlen will.
Das Gedicht ſelbſt, ſagte Friedrich, iſt ruͤh- rend und tief eindringlich, gewiß hat der Dich- ter dieſe Reimſpiele quae moerebat, et dolebat cum videbat mit bewegtem Gemuͤth geſungen. Weiß man ſeinen Urſprung nicht?
Den Dichter ſelbſt, antwortete Ernſt, kann man namentlich nicht nennen. Dieſer Hymnus aber entſtand zu einer Zeit, als die Menſchen kein Genuͤgen mehr fanden an dem, was ſie um ſich geſchehn ſahen, als die Hofnung auf welt- liche Kraft ihnen entwich, und die Vernunft ihnen keinen Troſt mehr darbot. Da wandten ſie ſich mit zerknirſchtem Herzen unmittelbar an den Unſichtbaren; unter Thraͤnen und Seufzern machten ſich Staͤdte und Doͤrfer im weißen Ge- wande auf, und durchzogen mit Bußpſalmen und Gebeten die Provinzen. Vom ſuͤdlichen
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Zweite Abtheilung.
mater vortragen zu hoͤren. Die Lieblichkeit der
Wehmuth in des Schmerzes Tiefe, dies Laͤcheln
in Thraͤnen, dieſe Kindlichkeit, die den hoͤchſten
Himmel anruͤhrt, iſt mir noch niemals ſo licht
in der Seele aufgegangen. Ich habe mich ab-
wenden muͤſſen, und meine Thraͤnen verbergen,
vorzuͤglich bei der Stelle: vidit suum dulcem
natum. Wie ſinnvoll, daß das Amen, nach dem
alles ſchon beſchloſſen iſt, noch in ſich ſelbſt klingt
und ſpielt, und in herzlicher Ruͤhrung kein Ende
finden kann, ſich gleichſam vor dem Trocknen
der Thraͤnen fuͤrchtet, und ſich im Schluchzen
noch fuͤhlen will.
Das Gedicht ſelbſt, ſagte Friedrich, iſt ruͤh-
rend und tief eindringlich, gewiß hat der Dich-
ter dieſe Reimſpiele quae moerebat, et dolebat
cum videbat mit bewegtem Gemuͤth geſungen.
Weiß man ſeinen Urſprung nicht?
Den Dichter ſelbſt, antwortete Ernſt, kann
man namentlich nicht nennen. Dieſer Hymnus
aber entſtand zu einer Zeit, als die Menſchen
kein Genuͤgen mehr fanden an dem, was ſie um
ſich geſchehn ſahen, als die Hofnung auf welt-
liche Kraft ihnen entwich, und die Vernunft
ihnen keinen Troſt mehr darbot. Da wandten
ſie ſich mit zerknirſchtem Herzen unmittelbar an
den Unſichtbaren; unter Thraͤnen und Seufzern
machten ſich Staͤdte und Doͤrfer im weißen Ge-
wande auf, und durchzogen mit Bußpſalmen
und Gebeten die Provinzen. Vom ſuͤdlichen
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/448>, abgerufen am 22.11.2024.
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