Nein, mein lieber zagender Freund, rief Friedrich plötzlich begeistert aus, laß dich nicht von dieser anscheinenden Weisheit beschwatzen, denn sie ist die Verzweiflung selbst! Kann die Liebe sterben, dies Gefühl, das bis in die fern- sten Tiefen meines Wesens blitzt und die dun- kelsten Kammern und alle Wunderschätze meines Herzens beleuchtet? Nicht die Schönheit meiner Geliebten ist es ja allein, die mich beglückt, nicht ihre Holdseligkeit allein, sondern vorzüglich ihre Liebe; und diese meine Liebe, die ihr entgegen geht, ist mein heiligster, unsterblichster Wille, ja meine Seele selbst, die sich in diesem Gefühl losringt von der verdunkelnden Materie; in die- ser Liebe seh' ich und fühl' ich Glauben und Unsterblichkeit, ja den Unnennbaren selbst inmit- ten meines Wesens und alle Wunder seiner Of- fenbarung. Die Schönheit kann schwinden, sie geht uns nur voran, wo wir sie wieder treffen, der Glaube bleibt uns. O, mein Bruder, gestor- ben, wie man sagt, sind längst Isalde und Sy- gune, ja, du lächelst über mich, denn sie haben wohl nie gelebt, aber das Menschengeschlecht lebt fort, und jeder Frühling und jede Liebe zündet von neuem das himmlische Feuer, und darum werden die heiligsten Thränen in allen Zeiten dem Schönsten nachgesandt, das sich nur scheinbar uns entzogen hat, und aus Kin- deraugen, von Jungfraunlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimniß-
vollem
Einleitung.
Nein, mein lieber zagender Freund, rief Friedrich ploͤtzlich begeiſtert aus, laß dich nicht von dieſer anſcheinenden Weisheit beſchwatzen, denn ſie iſt die Verzweiflung ſelbſt! Kann die Liebe ſterben, dies Gefuͤhl, das bis in die fern- ſten Tiefen meines Weſens blitzt und die dun- kelſten Kammern und alle Wunderſchaͤtze meines Herzens beleuchtet? Nicht die Schoͤnheit meiner Geliebten iſt es ja allein, die mich begluͤckt, nicht ihre Holdſeligkeit allein, ſondern vorzuͤglich ihre Liebe; und dieſe meine Liebe, die ihr entgegen geht, iſt mein heiligſter, unſterblichſter Wille, ja meine Seele ſelbſt, die ſich in dieſem Gefuͤhl losringt von der verdunkelnden Materie; in die- ſer Liebe ſeh' ich und fuͤhl' ich Glauben und Unſterblichkeit, ja den Unnennbaren ſelbſt inmit- ten meines Weſens und alle Wunder ſeiner Of- fenbarung. Die Schoͤnheit kann ſchwinden, ſie geht uns nur voran, wo wir ſie wieder treffen, der Glaube bleibt uns. O, mein Bruder, geſtor- ben, wie man ſagt, ſind laͤngſt Iſalde und Sy- gune, ja, du laͤchelſt uͤber mich, denn ſie haben wohl nie gelebt, aber das Menſchengeſchlecht lebt fort, und jeder Fruͤhling und jede Liebe zuͤndet von neuem das himmliſche Feuer, und darum werden die heiligſten Thraͤnen in allen Zeiten dem Schoͤnſten nachgeſandt, das ſich nur ſcheinbar uns entzogen hat, und aus Kin- deraugen, von Jungfraunlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimniß-
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Einleitung.
Nein, mein lieber zagender Freund, rief
Friedrich ploͤtzlich begeiſtert aus, laß dich nicht
von dieſer anſcheinenden Weisheit beſchwatzen,
denn ſie iſt die Verzweiflung ſelbſt! Kann die
Liebe ſterben, dies Gefuͤhl, das bis in die fern-
ſten Tiefen meines Weſens blitzt und die dun-
kelſten Kammern und alle Wunderſchaͤtze meines
Herzens beleuchtet? Nicht die Schoͤnheit meiner
Geliebten iſt es ja allein, die mich begluͤckt, nicht
ihre Holdſeligkeit allein, ſondern vorzuͤglich ihre
Liebe; und dieſe meine Liebe, die ihr entgegen
geht, iſt mein heiligſter, unſterblichſter Wille, ja
meine Seele ſelbſt, die ſich in dieſem Gefuͤhl
losringt von der verdunkelnden Materie; in die-
ſer Liebe ſeh' ich und fuͤhl' ich Glauben und
Unſterblichkeit, ja den Unnennbaren ſelbſt inmit-
ten meines Weſens und alle Wunder ſeiner Of-
fenbarung. Die Schoͤnheit kann ſchwinden, ſie
geht uns nur voran, wo wir ſie wieder treffen,
der Glaube bleibt uns. O, mein Bruder, geſtor-
ben, wie man ſagt, ſind laͤngſt Iſalde und Sy-
gune, ja, du laͤchelſt uͤber mich, denn ſie haben
wohl nie gelebt, aber das Menſchengeſchlecht
lebt fort, und jeder Fruͤhling und jede Liebe
zuͤndet von neuem das himmliſche Feuer, und
darum werden die heiligſten Thraͤnen in allen
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/59>, abgerufen am 24.11.2024.
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