stehn seine magischen Bücher, dies ist das Zimmer, in welchem er mir jenes holdselige Orakel erwecken wollte; verblichen ist die Röthe des Teppichs, die goldene Einfassung ermattet, aber wundersam leb- haft ist alles, alles aus jenen Stunden in meinem Gemüth; darum schauerte mir, als ich hieher ging, auf jenen langen verwickelten Gängen, welche mich Leopold führte; o Himmel, hier auf diesem Tische stieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf wie von der Röthe des Goldes getränkt und er- frischt; dasselbe Bild lachte hier mich an, welches mich heut Abend dorten im Saale fast wahnsinnig gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich so oft mit Albert in vertrauten Gesprächen auf und nieder wandelte.
Er entkleidete sich, schlief aber nur wenig. Am Morgen stand er früh wieder auf, und betrachtete das Zimmer von neuem; er eröffnete das Fenster, und sah dieselben Gärten und Gebäude vor sich, wie damals, nur waren indeß viele neue Häuser hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre sind seitdem verschwunden, seufzte er, und jeder Tag von da- mals enthielt längeres Leben als der ganze übrige Zeitraum.
Er ward wieder zur Gesellschaft gerufen. Der Morgen verging unter mannigfaltigen Gesprächen, endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein. So wie der Alte ihrer ansichtig ward, gerieth er wie außer sich, so daß keinem in der Gesellschaft seine Bewegung entging. Man begab sich zur Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als sich
I. [ 29 ]
Der Pokal.
ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer, in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb- haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging, auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er- friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und nieder wandelte.
Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter, und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich, wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da- mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige Zeitraum.
Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen, endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein. So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich
I. [ 29 ]
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0460"n="449"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/>ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer,<lb/>
in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken<lb/>
wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die<lb/>
goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb-<lb/>
haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem<lb/>
Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging,<lb/>
auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich<lb/>
Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche<lb/>ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf<lb/>
wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er-<lb/>
friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches<lb/>
mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig<lb/>
gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo<lb/>
oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und<lb/>
nieder wandelte.</p><lb/><p>Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am<lb/>
Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete<lb/>
das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter,<lb/>
und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich,<lb/>
wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer<lb/>
hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem<lb/>
verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da-<lb/>
mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige<lb/>
Zeitraum.</p><lb/><p>Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der<lb/>
Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen,<lb/>
endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein.<lb/>
So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er<lb/>
wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft<lb/>ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur<lb/>
Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">I. [ 29 ]</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[449/0460]
Der Pokal.
ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer,
in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken
wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die
goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb-
haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem
Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging,
auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich
Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche
ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf
wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er-
friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches
mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig
gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo
oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und
nieder wandelte.
Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am
Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete
das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter,
und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich,
wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer
hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem
verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da-
mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige
Zeitraum.
Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der
Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen,
endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein.
So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er
wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft
ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur
Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich
I. [ 29 ]
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/460>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.