Es war indessen finster geworden. Rosalie klingelte, um Lichter bringen zu lassen, worauf sie sich gegen Friedrich wandte und sagte: Mir ist seit meiner frühen Jugend schon diese Geschichte bekannt, aber ich danke Ihnen dafür, daß Sie das Spital und die Verpflegung der Kran- ken auf diese Weise unnöthig gemacht haben; das ländliche Gemählde der heitern Wiese und stillen Einsamkeit sind der Imagination weit an- genehmer.
Ich dachte vor Jahren eben so, antwortete Friedrich, und habe mir deshalb diese Umän- derung erlaubt, mit der ich jetzt aber um so un- zufriedener bin; auch hoffe ich, daß ich Sie wohl noch einmal zu meiner Meinung, und zur alten Erzählung zurück führen werde.
Wenn es aber gar nicht erlaubt seyn sollte, wandte Auguste ein, alte bekannte Geschichten nach Gutdünken und Laune abzuändern, und sie unserm Geschmack zuzubereiten, so würden wir ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge ganz unter, das uns so erhalten bleibt. Sind dergleichen Erfindungen schon ehemals umgeschrie- ben und neu erzählt worden, so begreife ich nicht, warum diese Freiheit nicht jedem neuern Dichter ebenfalls vergönnt seyn sollte. In Arabien, wo sie so viele Mährchen erzählen, bleibt man ge- wiß nicht immer der Sache treu, denn in jedem Erzähler regt sich die Lust, die Umstände anders zu wenden, sie wunderbarer oder anmuthiger zu
Erſte Abtheilung.
Es war indeſſen finſter geworden. Roſalie klingelte, um Lichter bringen zu laſſen, worauf ſie ſich gegen Friedrich wandte und ſagte: Mir iſt ſeit meiner fruͤhen Jugend ſchon dieſe Geſchichte bekannt, aber ich danke Ihnen dafuͤr, daß Sie das Spital und die Verpflegung der Kran- ken auf dieſe Weiſe unnoͤthig gemacht haben; das laͤndliche Gemaͤhlde der heitern Wieſe und ſtillen Einſamkeit ſind der Imagination weit an- genehmer.
Ich dachte vor Jahren eben ſo, antwortete Friedrich, und habe mir deshalb dieſe Umaͤn- derung erlaubt, mit der ich jetzt aber um ſo un- zufriedener bin; auch hoffe ich, daß ich Sie wohl noch einmal zu meiner Meinung, und zur alten Erzaͤhlung zuruͤck fuͤhren werde.
Wenn es aber gar nicht erlaubt ſeyn ſollte, wandte Auguſte ein, alte bekannte Geſchichten nach Gutduͤnken und Laune abzuaͤndern, und ſie unſerm Geſchmack zuzubereiten, ſo wuͤrden wir ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge ganz unter, das uns ſo erhalten bleibt. Sind dergleichen Erfindungen ſchon ehemals umgeſchrie- ben und neu erzaͤhlt worden, ſo begreife ich nicht, warum dieſe Freiheit nicht jedem neuern Dichter ebenfalls vergoͤnnt ſeyn ſollte. In Arabien, wo ſie ſo viele Maͤhrchen erzaͤhlen, bleibt man ge- wiß nicht immer der Sache treu, denn in jedem Erzaͤhler regt ſich die Luſt, die Umſtaͤnde anders zu wenden, ſie wunderbarer oder anmuthiger zu
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Erſte Abtheilung.
Es war indeſſen finſter geworden. Roſalie
klingelte, um Lichter bringen zu laſſen, worauf ſie
ſich gegen Friedrich wandte und ſagte: Mir iſt
ſeit meiner fruͤhen Jugend ſchon dieſe Geſchichte
bekannt, aber ich danke Ihnen dafuͤr, daß Sie
das Spital und die Verpflegung der Kran-
ken auf dieſe Weiſe unnoͤthig gemacht haben;
das laͤndliche Gemaͤhlde der heitern Wieſe und
ſtillen Einſamkeit ſind der Imagination weit an-
genehmer.
Ich dachte vor Jahren eben ſo, antwortete
Friedrich, und habe mir deshalb dieſe Umaͤn-
derung erlaubt, mit der ich jetzt aber um ſo un-
zufriedener bin; auch hoffe ich, daß ich Sie wohl
noch einmal zu meiner Meinung, und zur alten
Erzaͤhlung zuruͤck fuͤhren werde.
Wenn es aber gar nicht erlaubt ſeyn ſollte,
wandte Auguſte ein, alte bekannte Geſchichten
nach Gutduͤnken und Laune abzuaͤndern, und ſie
unſerm Geſchmack zuzubereiten, ſo wuͤrden wir
ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge
ganz unter, das uns ſo erhalten bleibt. Sind
dergleichen Erfindungen ſchon ehemals umgeſchrie-
ben und neu erzaͤhlt worden, ſo begreife ich nicht,
warum dieſe Freiheit nicht jedem neuern Dichter
ebenfalls vergoͤnnt ſeyn ſollte. In Arabien, wo
ſie ſo viele Maͤhrchen erzaͤhlen, bleibt man ge-
wiß nicht immer der Sache treu, denn in jedem
Erzaͤhler regt ſich die Luſt, die Umſtaͤnde anders
zu wenden, ſie wunderbarer oder anmuthiger zu
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/404>, abgerufen am 25.11.2024.
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