ganze unermeßliche Welt mir, wenn er mir fremd seyn müßte?
Gertraud tröstete sie, und die Prinzessin legte sich schlafen, vorher aber hing sie an einer seinen Perlenschnur den Ring um den Nacken, daß er ihr auf der Brust zu liegen kam. Im Schlafe sah sie sich in einem schönen und luftigen Garten, der hellste Sonnenschein flimmerte auf allen grünen Blättern, und wie von Harfensaiten tönte das Lied ihres Geliebten aus dem blauen Himmel her- unter, und goldbeschwingte Vögel staunten zum Himmel hinauf und merkten auf die Noten; lichte Wolken zogen unter der Melodie hinweg und wur- den rosenroth gefärbt und tönten wieder. Dann kam der Unbekannte in aller Lieblichkeit aus einem dunkeln Gange, er umarmte Magelonen und steckte ihr einen noch köstlichern Ring an den Finger, und die Töne vom Himmel herunter schlangen sich um beide wie ein goldenes Netz, und die Lichtwolken umkleideten sie, und sie waren von der Welt ge- trennt nur bei sich selber und in ihrer Liebe woh- nend, und wie ein fernes Klagegetön hörten sie Nach- tigallen singen und Büsche flüstern, daß sie von der Wonne des Himmels ausgeschlossen waren.
Als Magelone von ihrem schönen Traume er- wachte, erzählte sie alles der Amme, und diese sah jezt ein, daß sie ihren ganzen Sinn auf den Unbekannten gesetzt hätte, und daß er ihr Glück oder Unglück seyn müsse, worüber sie sehr nachdenklich wurde.
Erſte Abtheilung.
ganze unermeßliche Welt mir, wenn er mir fremd ſeyn muͤßte?
Gertraud troͤſtete ſie, und die Prinzeſſin legte ſich ſchlafen, vorher aber hing ſie an einer ſeinen Perlenſchnur den Ring um den Nacken, daß er ihr auf der Bruſt zu liegen kam. Im Schlafe ſah ſie ſich in einem ſchoͤnen und luftigen Garten, der hellſte Sonnenſchein flimmerte auf allen gruͤnen Blaͤttern, und wie von Harfenſaiten toͤnte das Lied ihres Geliebten aus dem blauen Himmel her- unter, und goldbeſchwingte Voͤgel ſtaunten zum Himmel hinauf und merkten auf die Noten; lichte Wolken zogen unter der Melodie hinweg und wur- den roſenroth gefaͤrbt und toͤnten wieder. Dann kam der Unbekannte in aller Lieblichkeit aus einem dunkeln Gange, er umarmte Magelonen und ſteckte ihr einen noch koͤſtlichern Ring an den Finger, und die Toͤne vom Himmel herunter ſchlangen ſich um beide wie ein goldenes Netz, und die Lichtwolken umkleideten ſie, und ſie waren von der Welt ge- trennt nur bei ſich ſelber und in ihrer Liebe woh- nend, und wie ein fernes Klagegetoͤn hoͤrten ſie Nach- tigallen ſingen und Buͤſche fluͤſtern, daß ſie von der Wonne des Himmels ausgeſchloſſen waren.
Als Magelone von ihrem ſchoͤnen Traume er- wachte, erzaͤhlte ſie alles der Amme, und dieſe ſah jezt ein, daß ſie ihren ganzen Sinn auf den Unbekannten geſetzt haͤtte, und daß er ihr Gluͤck oder Ungluͤck ſeyn muͤſſe, woruͤber ſie ſehr nachdenklich wurde.
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Erſte Abtheilung.
ganze unermeßliche Welt mir, wenn er mir fremd
ſeyn muͤßte?
Gertraud troͤſtete ſie, und die Prinzeſſin legte
ſich ſchlafen, vorher aber hing ſie an einer ſeinen
Perlenſchnur den Ring um den Nacken, daß er
ihr auf der Bruſt zu liegen kam. Im Schlafe
ſah ſie ſich in einem ſchoͤnen und luftigen Garten,
der hellſte Sonnenſchein flimmerte auf allen gruͤnen
Blaͤttern, und wie von Harfenſaiten toͤnte das
Lied ihres Geliebten aus dem blauen Himmel her-
unter, und goldbeſchwingte Voͤgel ſtaunten zum
Himmel hinauf und merkten auf die Noten; lichte
Wolken zogen unter der Melodie hinweg und wur-
den roſenroth gefaͤrbt und toͤnten wieder. Dann
kam der Unbekannte in aller Lieblichkeit aus einem
dunkeln Gange, er umarmte Magelonen und ſteckte
ihr einen noch koͤſtlichern Ring an den Finger, und
die Toͤne vom Himmel herunter ſchlangen ſich um
beide wie ein goldenes Netz, und die Lichtwolken
umkleideten ſie, und ſie waren von der Welt ge-
trennt nur bei ſich ſelber und in ihrer Liebe woh-
nend, und wie ein fernes Klagegetoͤn hoͤrten ſie Nach-
tigallen ſingen und Buͤſche fluͤſtern, daß ſie von
der Wonne des Himmels ausgeſchloſſen waren.
Als Magelone von ihrem ſchoͤnen Traume er-
wachte, erzaͤhlte ſie alles der Amme, und dieſe ſah jezt
ein, daß ſie ihren ganzen Sinn auf den Unbekannten
geſetzt haͤtte, und daß er ihr Gluͤck oder Ungluͤck
ſeyn muͤſſe, woruͤber ſie ſehr nachdenklich wurde.
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/357>, abgerufen am 22.11.2024.
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