Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Liebeszauber.

Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang,
Noch schreiender gellender Hörnergesang!
Ermuthiget schwingt, dringt, springt ohne Ruh,
Weil Lieb uns nicht Leben
Kein Herz hat gegeben,
Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu! --

Er hatte geendigt und stand am Fenster. Da
kam sie gegen über herein, so schön, wie er sie
noch nie gesehn hatte, das braune Haar aufgelöst
wogte und spielte in muthwilligen Locken um den
weißesten Nacken; sie war nur leicht bekleidet und
schien noch vor Schlafengehn zu später Nachtzeit
einige häusliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn
sie stellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers,
ordnete den Teppich auf dem Tische, und entfernte
sich wieder. Noch war Emil in seinen süßen Träu-
mereien versunken, und wiederholte sich in seiner
Phantasie das Bild seiner Geliebten, als zu sei-
nem Entsetzen die fürchterliche, die rothe Alte durch
das Zimmer schritt; gräßlich leuchtete von ihrem
Haupt und Busen das Gold im Widerschein der
Lichter. Sie war wieder verschwunden. Sollte
er seinen Augen trauen? War es kein Blendwerk
der Nacht, welches ihm seine eigne Einbildung
gespenstisch vorüber geführt hatte?

Aber nein, sie kehrte zurück, noch gräßlicher
als zuvor, denn ein langes greises und schwarzes
Haar flog wild und ungeordnet um Brust und
Rücken; das schöne Mädchen folgte ihr, blaß, ent-
stellt, die schönsten Brüste ohne Hülle, aber das
ganze Bild einer Statue von Marmor ähnlich.

Liebeszauber.

Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang,
Noch ſchreiender gellender Hoͤrnergeſang!
Ermuthiget ſchwingt, dringt, ſpringt ohne Ruh,
Weil Lieb uns nicht Leben
Kein Herz hat gegeben,
Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu! —

Er hatte geendigt und ſtand am Fenſter. Da
kam ſie gegen uͤber herein, ſo ſchoͤn, wie er ſie
noch nie geſehn hatte, das braune Haar aufgeloͤſt
wogte und ſpielte in muthwilligen Locken um den
weißeſten Nacken; ſie war nur leicht bekleidet und
ſchien noch vor Schlafengehn zu ſpaͤter Nachtzeit
einige haͤusliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn
ſie ſtellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers,
ordnete den Teppich auf dem Tiſche, und entfernte
ſich wieder. Noch war Emil in ſeinen ſuͤßen Traͤu-
mereien verſunken, und wiederholte ſich in ſeiner
Phantaſie das Bild ſeiner Geliebten, als zu ſei-
nem Entſetzen die fuͤrchterliche, die rothe Alte durch
das Zimmer ſchritt; graͤßlich leuchtete von ihrem
Haupt und Buſen das Gold im Widerſchein der
Lichter. Sie war wieder verſchwunden. Sollte
er ſeinen Augen trauen? War es kein Blendwerk
der Nacht, welches ihm ſeine eigne Einbildung
geſpenſtiſch voruͤber gefuͤhrt hatte?

Aber nein, ſie kehrte zuruͤck, noch graͤßlicher
als zuvor, denn ein langes greiſes und ſchwarzes
Haar flog wild und ungeordnet um Bruſt und
Ruͤcken; das ſchoͤne Maͤdchen folgte ihr, blaß, ent-
ſtellt, die ſchoͤnſten Bruͤſte ohne Huͤlle, aber das
ganze Bild einer Statue von Marmor aͤhnlich.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="6">
              <pb facs="#f0306" n="295"/>
              <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Liebeszauber</hi>.</fw><lb/>
              <l>Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang,</l><lb/>
              <l>Noch &#x017F;chreiender gellender Ho&#x0364;rnerge&#x017F;ang!</l><lb/>
              <l>Ermuthiget &#x017F;chwingt, dringt, &#x017F;pringt ohne Ruh,</l><lb/>
              <l>Weil Lieb uns nicht Leben</l><lb/>
              <l>Kein Herz hat gegeben,</l><lb/>
              <l>Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu! &#x2014;</l>
            </lg>
          </lg><lb/>
          <p>Er hatte geendigt und &#x017F;tand am Fen&#x017F;ter. Da<lb/>
kam &#x017F;ie gegen u&#x0364;ber herein, &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n, wie er &#x017F;ie<lb/>
noch nie ge&#x017F;ehn hatte, das braune Haar aufgelo&#x0364;&#x017F;t<lb/>
wogte und &#x017F;pielte in muthwilligen Locken um den<lb/>
weiße&#x017F;ten Nacken; &#x017F;ie war nur leicht bekleidet und<lb/>
&#x017F;chien noch vor Schlafengehn zu &#x017F;pa&#x0364;ter Nachtzeit<lb/>
einige ha&#x0364;usliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;tellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers,<lb/>
ordnete den Teppich auf dem Ti&#x017F;che, und entfernte<lb/>
&#x017F;ich wieder. Noch war Emil in &#x017F;einen &#x017F;u&#x0364;ßen Tra&#x0364;u-<lb/>
mereien ver&#x017F;unken, und wiederholte &#x017F;ich in &#x017F;einer<lb/>
Phanta&#x017F;ie das Bild &#x017F;einer Geliebten, als zu &#x017F;ei-<lb/>
nem Ent&#x017F;etzen die fu&#x0364;rchterliche, die rothe Alte durch<lb/>
das Zimmer &#x017F;chritt; gra&#x0364;ßlich leuchtete von ihrem<lb/>
Haupt und Bu&#x017F;en das Gold im Wider&#x017F;chein der<lb/>
Lichter. Sie war wieder ver&#x017F;chwunden. Sollte<lb/>
er &#x017F;einen Augen trauen? War es kein Blendwerk<lb/>
der Nacht, welches ihm &#x017F;eine eigne Einbildung<lb/>
ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;ch voru&#x0364;ber gefu&#x0364;hrt hatte?</p><lb/>
          <p>Aber nein, &#x017F;ie kehrte zuru&#x0364;ck, noch gra&#x0364;ßlicher<lb/>
als zuvor, denn ein langes grei&#x017F;es und &#x017F;chwarzes<lb/>
Haar flog wild und ungeordnet um Bru&#x017F;t und<lb/>
Ru&#x0364;cken; das &#x017F;cho&#x0364;ne Ma&#x0364;dchen folgte ihr, blaß, ent-<lb/>
&#x017F;tellt, die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Bru&#x0364;&#x017F;te ohne Hu&#x0364;lle, aber das<lb/>
ganze Bild einer Statue von Marmor a&#x0364;hnlich.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[295/0306] Liebeszauber. Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang, Noch ſchreiender gellender Hoͤrnergeſang! Ermuthiget ſchwingt, dringt, ſpringt ohne Ruh, Weil Lieb uns nicht Leben Kein Herz hat gegeben, Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu! — Er hatte geendigt und ſtand am Fenſter. Da kam ſie gegen uͤber herein, ſo ſchoͤn, wie er ſie noch nie geſehn hatte, das braune Haar aufgeloͤſt wogte und ſpielte in muthwilligen Locken um den weißeſten Nacken; ſie war nur leicht bekleidet und ſchien noch vor Schlafengehn zu ſpaͤter Nachtzeit einige haͤusliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn ſie ſtellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers, ordnete den Teppich auf dem Tiſche, und entfernte ſich wieder. Noch war Emil in ſeinen ſuͤßen Traͤu- mereien verſunken, und wiederholte ſich in ſeiner Phantaſie das Bild ſeiner Geliebten, als zu ſei- nem Entſetzen die fuͤrchterliche, die rothe Alte durch das Zimmer ſchritt; graͤßlich leuchtete von ihrem Haupt und Buſen das Gold im Widerſchein der Lichter. Sie war wieder verſchwunden. Sollte er ſeinen Augen trauen? War es kein Blendwerk der Nacht, welches ihm ſeine eigne Einbildung geſpenſtiſch voruͤber gefuͤhrt hatte? Aber nein, ſie kehrte zuruͤck, noch graͤßlicher als zuvor, denn ein langes greiſes und ſchwarzes Haar flog wild und ungeordnet um Bruſt und Ruͤcken; das ſchoͤne Maͤdchen folgte ihr, blaß, ent- ſtellt, die ſchoͤnſten Bruͤſte ohne Huͤlle, aber das ganze Bild einer Statue von Marmor aͤhnlich.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/306
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/306>, abgerufen am 22.11.2024.