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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
mich auf dich, sagte der Fremde. Morgen nach
Mitternacht bin ich euch zu Diensten, antwortete
die Alte; ihr werdet ja nicht der erste seyn, der mit
meiner Kundschaft unzufrieden ist; heute, wie ihr
gehört habt, bin ich für jemand anders bestellt,
auf dessen Sinn und Verstand unsere Kunst gewiß
nachdrücklich wirken soll. Die letzten Worte sagte
sie mit halbem Lachen, und beide gingen aus ein-
ander und entfernten sich nach verschiedenen Rich-
tungen. Emil trat schaudernd aus der dunkeln
Nische hervor und erhob seine Blicke zum Bilde
der Jungfrau mit dem Kinde; vor deinen Augen,
du Holdselige, sagte er halb laut, erfrechen sich
die Greuel ihre Abrede zu treffen, um ihren ab-
scheulichen Betrug zu verhandeln, doch so, wie du
dein Kind in Liebe umfängst, so hält uns alle die
unsichtbare Liebe in fühlbaren Armen, und unser
armes Herz klopft in Freude wie in Angst einem
grösseren entgegen, das uns niemals verlassen wird.
Wolken zogen über die Spitze des Thurms und
das schroffe Dach der Kirche hinweg, die ewigen
Sterne schauten funkelnd und mit freundlichem
Ernst hernieder, und Emil wandte sich entschlossen
von diesen nächtlichen Schauern und gedachte der
Schönheit seiner Unbekannten. Er betrat wieder
die belebten Gassen, und lenkte nach dem heller-
leuchteten Ballhause ein, von welchem ihm Stim-
men, Wagengerassel, und in einzelnen Pausen die
lärmende Musik entgegen schallten.

Im Saale verlor er sich sogleich im fluten-
den Getümmel, Tänzer umsprangen ihn, Masken

Erſte Abtheilung.
mich auf dich, ſagte der Fremde. Morgen nach
Mitternacht bin ich euch zu Dienſten, antwortete
die Alte; ihr werdet ja nicht der erſte ſeyn, der mit
meiner Kundſchaft unzufrieden iſt; heute, wie ihr
gehoͤrt habt, bin ich fuͤr jemand anders beſtellt,
auf deſſen Sinn und Verſtand unſere Kunſt gewiß
nachdruͤcklich wirken ſoll. Die letzten Worte ſagte
ſie mit halbem Lachen, und beide gingen aus ein-
ander und entfernten ſich nach verſchiedenen Rich-
tungen. Emil trat ſchaudernd aus der dunkeln
Niſche hervor und erhob ſeine Blicke zum Bilde
der Jungfrau mit dem Kinde; vor deinen Augen,
du Holdſelige, ſagte er halb laut, erfrechen ſich
die Greuel ihre Abrede zu treffen, um ihren ab-
ſcheulichen Betrug zu verhandeln, doch ſo, wie du
dein Kind in Liebe umfaͤngſt, ſo haͤlt uns alle die
unſichtbare Liebe in fuͤhlbaren Armen, und unſer
armes Herz klopft in Freude wie in Angſt einem
groͤſſeren entgegen, das uns niemals verlaſſen wird.
Wolken zogen uͤber die Spitze des Thurms und
das ſchroffe Dach der Kirche hinweg, die ewigen
Sterne ſchauten funkelnd und mit freundlichem
Ernſt hernieder, und Emil wandte ſich entſchloſſen
von dieſen naͤchtlichen Schauern und gedachte der
Schoͤnheit ſeiner Unbekannten. Er betrat wieder
die belebten Gaſſen, und lenkte nach dem heller-
leuchteten Ballhauſe ein, von welchem ihm Stim-
men, Wagengeraſſel, und in einzelnen Pauſen die
laͤrmende Muſik entgegen ſchallten.

Im Saale verlor er ſich ſogleich im fluten-
den Getuͤmmel, Taͤnzer umſprangen ihn, Masken

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[286/0297] Erſte Abtheilung. mich auf dich, ſagte der Fremde. Morgen nach Mitternacht bin ich euch zu Dienſten, antwortete die Alte; ihr werdet ja nicht der erſte ſeyn, der mit meiner Kundſchaft unzufrieden iſt; heute, wie ihr gehoͤrt habt, bin ich fuͤr jemand anders beſtellt, auf deſſen Sinn und Verſtand unſere Kunſt gewiß nachdruͤcklich wirken ſoll. Die letzten Worte ſagte ſie mit halbem Lachen, und beide gingen aus ein- ander und entfernten ſich nach verſchiedenen Rich- tungen. Emil trat ſchaudernd aus der dunkeln Niſche hervor und erhob ſeine Blicke zum Bilde der Jungfrau mit dem Kinde; vor deinen Augen, du Holdſelige, ſagte er halb laut, erfrechen ſich die Greuel ihre Abrede zu treffen, um ihren ab- ſcheulichen Betrug zu verhandeln, doch ſo, wie du dein Kind in Liebe umfaͤngſt, ſo haͤlt uns alle die unſichtbare Liebe in fuͤhlbaren Armen, und unſer armes Herz klopft in Freude wie in Angſt einem groͤſſeren entgegen, das uns niemals verlaſſen wird. Wolken zogen uͤber die Spitze des Thurms und das ſchroffe Dach der Kirche hinweg, die ewigen Sterne ſchauten funkelnd und mit freundlichem Ernſt hernieder, und Emil wandte ſich entſchloſſen von dieſen naͤchtlichen Schauern und gedachte der Schoͤnheit ſeiner Unbekannten. Er betrat wieder die belebten Gaſſen, und lenkte nach dem heller- leuchteten Ballhauſe ein, von welchem ihm Stim- men, Wagengeraſſel, und in einzelnen Pauſen die laͤrmende Muſik entgegen ſchallten. Im Saale verlor er ſich ſogleich im fluten- den Getuͤmmel, Taͤnzer umſprangen ihn, Masken

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/297>, abgerufen am 25.11.2024.