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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
ruhigsten und mittheilsamsten aller Menschen in der
größten Einsamkeit lebte.

Heute erwartete ihn Emil gewiß, weil er ihm
das feyerliche Versprechen hatte geben müssen, den
Abend mit ihm zuzubringen, um zu erfahren, was
schon seit Wochen seinen tiefsinnigen Freund ge-
drückt und beängstigt habe. Emil schrieb indeß fol-
gende Verse nieder.

Wie lieb und hold ist Frühlingsleben,
Wenn alle Nachtigallen singen,
Und wie die Tön' in Bäumen klingen
In Wonne Laub und Blüthen beben.
Wie schön im goldnen Mondenscheine
Das Spiel der lauen Abendlüfte,
Die, auf den Flügeln Lindendüfte,
Sich jagen durch die stillen Haine.
Wie herrlich glänzt die Rosenpracht,
Wenn Liebreiz rings die Felder schmücket,
Die Lieb' aus tausend Rosen blicket,
Aus Sternen ihrer Wonne-Nacht.
Doch schöner dünkt mir, holder, lieber,
Des kleinen Lichtleins blaß Geflimmer,
Wenn sie sich zeigt im engen Zimmer,
Späh' ich in Nacht zu ihr hinüber,
Wie sie die Flechten löst und bindet,
Wie sie im Schwung der weißen Hand
Anschmiegt dem Leibe hell Gewand,
Und Kränz' in braune Locken windet.
Wie sie die Laute läßt erklingen,
Und Töne, aufgejagt, erwachen,
Berührt von zarten Fingern lachen,
Und scherzend durch die Saiten springen;

Erſte Abtheilung.
ruhigſten und mittheilſamſten aller Menſchen in der
groͤßten Einſamkeit lebte.

Heute erwartete ihn Emil gewiß, weil er ihm
das feyerliche Verſprechen hatte geben muͤſſen, den
Abend mit ihm zuzubringen, um zu erfahren, was
ſchon ſeit Wochen ſeinen tiefſinnigen Freund ge-
druͤckt und beaͤngſtigt habe. Emil ſchrieb indeß fol-
gende Verſe nieder.

Wie lieb und hold iſt Fruͤhlingsleben,
Wenn alle Nachtigallen ſingen,
Und wie die Toͤn' in Baͤumen klingen
In Wonne Laub und Bluͤthen beben.
Wie ſchoͤn im goldnen Mondenſcheine
Das Spiel der lauen Abendluͤfte,
Die, auf den Fluͤgeln Lindenduͤfte,
Sich jagen durch die ſtillen Haine.
Wie herrlich glaͤnzt die Roſenpracht,
Wenn Liebreiz rings die Felder ſchmuͤcket,
Die Lieb' aus tauſend Roſen blicket,
Aus Sternen ihrer Wonne-Nacht.
Doch ſchoͤner duͤnkt mir, holder, lieber,
Des kleinen Lichtleins blaß Geflimmer,
Wenn ſie ſich zeigt im engen Zimmer,
Spaͤh' ich in Nacht zu ihr hinuͤber,
Wie ſie die Flechten loͤſt und bindet,
Wie ſie im Schwung der weißen Hand
Anſchmiegt dem Leibe hell Gewand,
Und Kraͤnz' in braune Locken windet.
Wie ſie die Laute laͤßt erklingen,
Und Toͤne, aufgejagt, erwachen,
Beruͤhrt von zarten Fingern lachen,
Und ſcherzend durch die Saiten ſpringen;

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[276/0287] Erſte Abtheilung. ruhigſten und mittheilſamſten aller Menſchen in der groͤßten Einſamkeit lebte. Heute erwartete ihn Emil gewiß, weil er ihm das feyerliche Verſprechen hatte geben muͤſſen, den Abend mit ihm zuzubringen, um zu erfahren, was ſchon ſeit Wochen ſeinen tiefſinnigen Freund ge- druͤckt und beaͤngſtigt habe. Emil ſchrieb indeß fol- gende Verſe nieder. Wie lieb und hold iſt Fruͤhlingsleben, Wenn alle Nachtigallen ſingen, Und wie die Toͤn' in Baͤumen klingen In Wonne Laub und Bluͤthen beben. Wie ſchoͤn im goldnen Mondenſcheine Das Spiel der lauen Abendluͤfte, Die, auf den Fluͤgeln Lindenduͤfte, Sich jagen durch die ſtillen Haine. Wie herrlich glaͤnzt die Roſenpracht, Wenn Liebreiz rings die Felder ſchmuͤcket, Die Lieb' aus tauſend Roſen blicket, Aus Sternen ihrer Wonne-Nacht. Doch ſchoͤner duͤnkt mir, holder, lieber, Des kleinen Lichtleins blaß Geflimmer, Wenn ſie ſich zeigt im engen Zimmer, Spaͤh' ich in Nacht zu ihr hinuͤber, Wie ſie die Flechten loͤſt und bindet, Wie ſie im Schwung der weißen Hand Anſchmiegt dem Leibe hell Gewand, Und Kraͤnz' in braune Locken windet. Wie ſie die Laute laͤßt erklingen, Und Toͤne, aufgejagt, erwachen, Beruͤhrt von zarten Fingern lachen, Und ſcherzend durch die Saiten ſpringen;

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/287>, abgerufen am 22.11.2024.