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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
ihr nacheilen, aber seine Augen fanden sie nicht
mehr.

Indem zog etwas Glänzendes seine Blicke in
das grüne Gras nieder. Er hob es auf, und sahe
die magische Tafel mit den farbigen Edelgesteinen,
mit der seltsamen Figur wieder, die er vor so man-
chem Jahr verloren hatte. Die Gestalt und die
bunten Lichter drückten mit der plötzlichsten Gewalt
auf alle seine Sinne. Er faßte sie recht fest an,
um sich zu überzeugen, daß er sie wieder in seinen
Händen halte, und eilte dann damit nach dem
Dorfe zurück. Der Vater begegnete ihm. Seht,
rief er ihm zu, das, wovon ich euch so oft erzählt
habe, was ich nur im Traum zu sehn glaubte, ist
jetzt gewiß und wahrhaftig mein. Der Alte betrach-
tete die Tafel lange und sagte: mein Sohn, mir
schaudert recht im Herzen, wenn ich die Linea-
mente dieser Steine betrachte und ahnend den
Sinn dieser Wortfügung errathe; sieh her, wie
kalt sie funkeln, welche grausame Blicke sie von
sich geben, blutdürstig, wie das rothe Auge des
Tiegers. Wirf diese Schrift weg, die dich kalt
und grausam macht, die dein Herz versteinern muß:

Sieh die zarten Blüthen keimen,
Wie sie aus sich selbst erwachen,
Und wie Kinder aus den Träumen
Dir entgegen lieblich lachen.
Ihre Farbe ist im Spielen
Zugekehrt der goldnen Sonne,
Deren heißen Kuß zu fühlen,
Das ist ihre höchste Wonne,

Der Runenberg.
ihr nacheilen, aber ſeine Augen fanden ſie nicht
mehr.

Indem zog etwas Glaͤnzendes ſeine Blicke in
das gruͤne Gras nieder. Er hob es auf, und ſahe
die magiſche Tafel mit den farbigen Edelgeſteinen,
mit der ſeltſamen Figur wieder, die er vor ſo man-
chem Jahr verloren hatte. Die Geſtalt und die
bunten Lichter druͤckten mit der ploͤtzlichſten Gewalt
auf alle ſeine Sinne. Er faßte ſie recht feſt an,
um ſich zu uͤberzeugen, daß er ſie wieder in ſeinen
Haͤnden halte, und eilte dann damit nach dem
Dorfe zuruͤck. Der Vater begegnete ihm. Seht,
rief er ihm zu, das, wovon ich euch ſo oft erzaͤhlt
habe, was ich nur im Traum zu ſehn glaubte, iſt
jetzt gewiß und wahrhaftig mein. Der Alte betrach-
tete die Tafel lange und ſagte: mein Sohn, mir
ſchaudert recht im Herzen, wenn ich die Linea-
mente dieſer Steine betrachte und ahnend den
Sinn dieſer Wortfuͤgung errathe; ſieh her, wie
kalt ſie funkeln, welche grauſame Blicke ſie von
ſich geben, blutduͤrſtig, wie das rothe Auge des
Tiegers. Wirf dieſe Schrift weg, die dich kalt
und grauſam macht, die dein Herz verſteinern muß:

Sieh die zarten Bluͤthen keimen,
Wie ſie aus ſich ſelbſt erwachen,
Und wie Kinder aus den Traͤumen
Dir entgegen lieblich lachen.
Ihre Farbe iſt im Spielen
Zugekehrt der goldnen Sonne,
Deren heißen Kuß zu fuͤhlen,
Das iſt ihre hoͤchſte Wonne,

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[267/0278] Der Runenberg. ihr nacheilen, aber ſeine Augen fanden ſie nicht mehr. Indem zog etwas Glaͤnzendes ſeine Blicke in das gruͤne Gras nieder. Er hob es auf, und ſahe die magiſche Tafel mit den farbigen Edelgeſteinen, mit der ſeltſamen Figur wieder, die er vor ſo man- chem Jahr verloren hatte. Die Geſtalt und die bunten Lichter druͤckten mit der ploͤtzlichſten Gewalt auf alle ſeine Sinne. Er faßte ſie recht feſt an, um ſich zu uͤberzeugen, daß er ſie wieder in ſeinen Haͤnden halte, und eilte dann damit nach dem Dorfe zuruͤck. Der Vater begegnete ihm. Seht, rief er ihm zu, das, wovon ich euch ſo oft erzaͤhlt habe, was ich nur im Traum zu ſehn glaubte, iſt jetzt gewiß und wahrhaftig mein. Der Alte betrach- tete die Tafel lange und ſagte: mein Sohn, mir ſchaudert recht im Herzen, wenn ich die Linea- mente dieſer Steine betrachte und ahnend den Sinn dieſer Wortfuͤgung errathe; ſieh her, wie kalt ſie funkeln, welche grauſame Blicke ſie von ſich geben, blutduͤrſtig, wie das rothe Auge des Tiegers. Wirf dieſe Schrift weg, die dich kalt und grauſam macht, die dein Herz verſteinern muß: Sieh die zarten Bluͤthen keimen, Wie ſie aus ſich ſelbſt erwachen, Und wie Kinder aus den Traͤumen Dir entgegen lieblich lachen. Ihre Farbe iſt im Spielen Zugekehrt der goldnen Sonne, Deren heißen Kuß zu fuͤhlen, Das iſt ihre hoͤchſte Wonne,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/278>, abgerufen am 25.11.2024.