töse herüber vernahmen: so öffnet sich ein gro- ßes Dichterwerk in die Mannigfaltigkeit der Welt und entfaltet den Reichthum der Charaktere; nun traten wir in den Hain von verschiedenem duftenden Gehölz, in welchem die Nachtigall so lieblich klagte, die Sonne sich verbarg, ein Bach so leise schluchzend aus den Bergen quoll, und murmelnd jenen blauen Strom suchte, den wir plötzlich, um die Felsenecke biegend, in aller Herrlichkeit wieder fanden: so schmilzt Sehnsucht und Schmerz, und sucht die ver- wandte Brust des tröstenden Freundes, um sich ganz, ganz in dessen lieblich erquickende Fülle zu ergießen, und sich in triumphirende Woge zu verwandeln. Wie wird sich diese reizende Land- schaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft habe ich Lust gefühlt, einer romantischen Musik ein Gedicht unterzulegen, oder gewünscht, ein genialischer Tonkünstler möchte mir voraus arbei- ten, um nachher den Text seiner Musik zu suchen; aber wahrlich, ich fühle jetzt, daß sich aus sol- chem Wechsel einer anmuthigen Landschaft eben- falls ein reizendes erzählendes Gedicht entwickeln ließe.
Zu wiederholten malen, erwiederte Ernst, hat mich unser Freund Manfred mit dergleichen Vorstellungen unterhalten, und indem du sprachst dachte ich an den unvergleichlichen Parceval und seine Krone, den Titurell. Jeder Spaziergang, der uns befriedigt, hat in unsrer Seele ein Ge-
dicht
Einleitung.
toͤſe heruͤber vernahmen: ſo oͤffnet ſich ein gro- ßes Dichterwerk in die Mannigfaltigkeit der Welt und entfaltet den Reichthum der Charaktere; nun traten wir in den Hain von verſchiedenem duftenden Gehoͤlz, in welchem die Nachtigall ſo lieblich klagte, die Sonne ſich verbarg, ein Bach ſo leiſe ſchluchzend aus den Bergen quoll, und murmelnd jenen blauen Strom ſuchte, den wir ploͤtzlich, um die Felſenecke biegend, in aller Herrlichkeit wieder fanden: ſo ſchmilzt Sehnſucht und Schmerz, und ſucht die ver- wandte Bruſt des troͤſtenden Freundes, um ſich ganz, ganz in deſſen lieblich erquickende Fuͤlle zu ergießen, und ſich in triumphirende Woge zu verwandeln. Wie wird ſich dieſe reizende Land- ſchaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft habe ich Luſt gefuͤhlt, einer romantiſchen Muſik ein Gedicht unterzulegen, oder gewuͤnſcht, ein genialiſcher Tonkuͤnſtler moͤchte mir voraus arbei- ten, um nachher den Text ſeiner Muſik zu ſuchen; aber wahrlich, ich fuͤhle jetzt, daß ſich aus ſol- chem Wechſel einer anmuthigen Landſchaft eben- falls ein reizendes erzaͤhlendes Gedicht entwickeln ließe.
Zu wiederholten malen, erwiederte Ernſt, hat mich unſer Freund Manfred mit dergleichen Vorſtellungen unterhalten, und indem du ſprachſt dachte ich an den unvergleichlichen Parceval und ſeine Krone, den Titurell. Jeder Spaziergang, der uns befriedigt, hat in unſrer Seele ein Ge-
dicht
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[16/0027]
Einleitung.
toͤſe heruͤber vernahmen: ſo oͤffnet ſich ein gro-
ßes Dichterwerk in die Mannigfaltigkeit der Welt
und entfaltet den Reichthum der Charaktere;
nun traten wir in den Hain von verſchiedenem
duftenden Gehoͤlz, in welchem die Nachtigall
ſo lieblich klagte, die Sonne ſich verbarg, ein
Bach ſo leiſe ſchluchzend aus den Bergen quoll,
und murmelnd jenen blauen Strom ſuchte, den
wir ploͤtzlich, um die Felſenecke biegend, in
aller Herrlichkeit wieder fanden: ſo ſchmilzt
Sehnſucht und Schmerz, und ſucht die ver-
wandte Bruſt des troͤſtenden Freundes, um ſich
ganz, ganz in deſſen lieblich erquickende Fuͤlle
zu ergießen, und ſich in triumphirende Woge zu
verwandeln. Wie wird ſich dieſe reizende Land-
ſchaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft
habe ich Luſt gefuͤhlt, einer romantiſchen Muſik
ein Gedicht unterzulegen, oder gewuͤnſcht, ein
genialiſcher Tonkuͤnſtler moͤchte mir voraus arbei-
ten, um nachher den Text ſeiner Muſik zu ſuchen;
aber wahrlich, ich fuͤhle jetzt, daß ſich aus ſol-
chem Wechſel einer anmuthigen Landſchaft eben-
falls ein reizendes erzaͤhlendes Gedicht entwickeln
ließe.
Zu wiederholten malen, erwiederte Ernſt,
hat mich unſer Freund Manfred mit dergleichen
Vorſtellungen unterhalten, und indem du ſprachſt
dachte ich an den unvergleichlichen Parceval und
ſeine Krone, den Titurell. Jeder Spaziergang,
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/27>, abgerufen am 16.07.2024.
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