Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Runenberg.
er blieb oft stehen und verwunderte sich über seine
Furcht, über die Schauer, die ihm mit jedem
Schritte gedrängter nahe kamen. Ich kenne dich
Wahnsinn wohl, rief er aus, und dein gefährliches
Locken, aber ich will dir männlich widerstehn! Eli-
sabeth ist kein schnöder Traum, ich weiß, daß sie
jetzt an mich denkt, daß sie auf mich wartet und
liebevoll die Stunden meiner Abwesenheit zählt.
Sehe ich nicht schon Wälder wie schwarze Haare
vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz-
zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen
Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? --
Mit diesen Worten wollte er sich um auszuruhen
unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat-
ten desselben einen alten Mann sitzen sah, der mit
der größten Aufmerksamkeit eine Blume betrachtete,
sie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit
seiner Hand beschattete, ihre Blätter zählte, und
überhaupt sich bemühte, sie seinem Gedächtnisse
genau einzuprägen. Als er näher ging, erschien
ihm die Gestalt so bekannt, und bald blieb ihm
kein Zweifel übrig, daß der Alte mit der Blume
sein Vater sey. Er stürzte ihm mit dem Ausdruck
der heftigsten Freude in die Arme; jener war ver-
gnügt, aber nicht überrascht, ihn so plötzlich wie-
der zu sehen. Kömmst du mir schon entgegen,
mein Sohn? sagte der Alte, ich wußte, daß ich
dich bald finden würde, aber ich glaubte nicht, daß
mir schon am heutigen Tage die Freude widerfah-
ren sollte. -- Woher wußtet Ihr, Vater, daß
Ihr mich antreffen würdet? -- An dieser Blume,

I. [ 17 ]

Der Runenberg.
er blieb oft ſtehen und verwunderte ſich uͤber ſeine
Furcht, uͤber die Schauer, die ihm mit jedem
Schritte gedraͤngter nahe kamen. Ich kenne dich
Wahnſinn wohl, rief er aus, und dein gefaͤhrliches
Locken, aber ich will dir maͤnnlich widerſtehn! Eli-
ſabeth iſt kein ſchnoͤder Traum, ich weiß, daß ſie
jetzt an mich denkt, daß ſie auf mich wartet und
liebevoll die Stunden meiner Abweſenheit zaͤhlt.
Sehe ich nicht ſchon Waͤlder wie ſchwarze Haare
vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz-
zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen
Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? —
Mit dieſen Worten wollte er ſich um auszuruhen
unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat-
ten deſſelben einen alten Mann ſitzen ſah, der mit
der groͤßten Aufmerkſamkeit eine Blume betrachtete,
ſie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit
ſeiner Hand beſchattete, ihre Blaͤtter zaͤhlte, und
uͤberhaupt ſich bemuͤhte, ſie ſeinem Gedaͤchtniſſe
genau einzupraͤgen. Als er naͤher ging, erſchien
ihm die Geſtalt ſo bekannt, und bald blieb ihm
kein Zweifel uͤbrig, daß der Alte mit der Blume
ſein Vater ſey. Er ſtuͤrzte ihm mit dem Ausdruck
der heftigſten Freude in die Arme; jener war ver-
gnuͤgt, aber nicht uͤberraſcht, ihn ſo ploͤtzlich wie-
der zu ſehen. Koͤmmſt du mir ſchon entgegen,
mein Sohn? ſagte der Alte, ich wußte, daß ich
dich bald finden wuͤrde, aber ich glaubte nicht, daß
mir ſchon am heutigen Tage die Freude widerfah-
ren ſollte. — Woher wußtet Ihr, Vater, daß
Ihr mich antreffen wuͤrdet? — An dieſer Blume,

I. [ 17 ]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0268" n="257"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Runenberg</hi>.</fw><lb/>
er blieb oft &#x017F;tehen und verwunderte &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;eine<lb/>
Furcht, u&#x0364;ber die Schauer, die ihm mit jedem<lb/>
Schritte gedra&#x0364;ngter nahe kamen. Ich kenne dich<lb/>
Wahn&#x017F;inn wohl, rief er aus, und dein gefa&#x0364;hrliches<lb/>
Locken, aber ich will dir ma&#x0364;nnlich wider&#x017F;tehn! Eli-<lb/>
&#x017F;abeth i&#x017F;t kein &#x017F;chno&#x0364;der Traum, ich weiß, daß &#x017F;ie<lb/>
jetzt an mich denkt, daß &#x017F;ie auf mich wartet und<lb/>
liebevoll die Stunden meiner Abwe&#x017F;enheit za&#x0364;hlt.<lb/>
Sehe ich nicht &#x017F;chon Wa&#x0364;lder wie &#x017F;chwarze Haare<lb/>
vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz-<lb/>
zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen<lb/>
Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? &#x2014;<lb/>
Mit die&#x017F;en Worten wollte er &#x017F;ich um auszuruhen<lb/>
unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat-<lb/>
ten de&#x017F;&#x017F;elben einen alten Mann &#x017F;itzen &#x017F;ah, der mit<lb/>
der gro&#x0364;ßten Aufmerk&#x017F;amkeit eine Blume betrachtete,<lb/>
&#x017F;ie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit<lb/>
&#x017F;einer Hand be&#x017F;chattete, ihre Bla&#x0364;tter za&#x0364;hlte, und<lb/>
u&#x0364;berhaupt &#x017F;ich bemu&#x0364;hte, &#x017F;ie &#x017F;einem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
genau einzupra&#x0364;gen. Als er na&#x0364;her ging, er&#x017F;chien<lb/>
ihm die Ge&#x017F;talt &#x017F;o bekannt, und bald blieb ihm<lb/>
kein Zweifel u&#x0364;brig, daß der Alte mit der Blume<lb/>
&#x017F;ein Vater &#x017F;ey. Er &#x017F;tu&#x0364;rzte ihm mit dem Ausdruck<lb/>
der heftig&#x017F;ten Freude in die Arme; jener war ver-<lb/>
gnu&#x0364;gt, aber nicht u&#x0364;berra&#x017F;cht, ihn &#x017F;o plo&#x0364;tzlich wie-<lb/>
der zu &#x017F;ehen. Ko&#x0364;mm&#x017F;t du mir &#x017F;chon entgegen,<lb/>
mein Sohn? &#x017F;agte der Alte, ich wußte, daß ich<lb/>
dich bald finden wu&#x0364;rde, aber ich glaubte nicht, daß<lb/>
mir &#x017F;chon am heutigen Tage die Freude widerfah-<lb/>
ren &#x017F;ollte. &#x2014; Woher wußtet Ihr, Vater, daß<lb/>
Ihr mich antreffen wu&#x0364;rdet? &#x2014; An die&#x017F;er Blume,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">I. [ 17 ]</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0268] Der Runenberg. er blieb oft ſtehen und verwunderte ſich uͤber ſeine Furcht, uͤber die Schauer, die ihm mit jedem Schritte gedraͤngter nahe kamen. Ich kenne dich Wahnſinn wohl, rief er aus, und dein gefaͤhrliches Locken, aber ich will dir maͤnnlich widerſtehn! Eli- ſabeth iſt kein ſchnoͤder Traum, ich weiß, daß ſie jetzt an mich denkt, daß ſie auf mich wartet und liebevoll die Stunden meiner Abweſenheit zaͤhlt. Sehe ich nicht ſchon Waͤlder wie ſchwarze Haare vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz- zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? — Mit dieſen Worten wollte er ſich um auszuruhen unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat- ten deſſelben einen alten Mann ſitzen ſah, der mit der groͤßten Aufmerkſamkeit eine Blume betrachtete, ſie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit ſeiner Hand beſchattete, ihre Blaͤtter zaͤhlte, und uͤberhaupt ſich bemuͤhte, ſie ſeinem Gedaͤchtniſſe genau einzupraͤgen. Als er naͤher ging, erſchien ihm die Geſtalt ſo bekannt, und bald blieb ihm kein Zweifel uͤbrig, daß der Alte mit der Blume ſein Vater ſey. Er ſtuͤrzte ihm mit dem Ausdruck der heftigſten Freude in die Arme; jener war ver- gnuͤgt, aber nicht uͤberraſcht, ihn ſo ploͤtzlich wie- der zu ſehen. Koͤmmſt du mir ſchon entgegen, mein Sohn? ſagte der Alte, ich wußte, daß ich dich bald finden wuͤrde, aber ich glaubte nicht, daß mir ſchon am heutigen Tage die Freude widerfah- ren ſollte. — Woher wußtet Ihr, Vater, daß Ihr mich antreffen wuͤrdet? — An dieſer Blume, I. [ 17 ]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/268
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/268>, abgerufen am 22.11.2024.