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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
die kostbare Tafel, in welcher sich der untersinkende
Mond schwach und bläulich spiegelte.

Noch hielt er die Tafel fest in seine Hände
gepreßt, als der Morgen graute und er erschöpft,
schwindelnd und halb schlafend die steile Höhe hin-
unter stürzte. --

Die Sonne schien dem betäubten Schläfer
auf sein Gesicht, der sich erwachend auf einem
anmuthigen Hügel wieder fand. Er sah umher,
und erblickte weit hinter sich und kaum noch kenn-
bar am äußersten Horizont die Trümmer des Ru-
nenberges: er suchte nach jener Tafel, und fand
sie nirgend. Erstaunt und verwirrt wollte er sich
sammeln und seine Erinnerungen anknüpfen, aber
sein Gedächtniß war wie mit einem wüsten Nebel
angefüllt, in welchem sich formlose Gestalten wild
und unkenntlich durch einander bewegten. Sein gan-
zes voriges Leben lag wie in einer tiefen Ferne
hinter ihm; das Seltsamste und das Gewöhnliche
war so in einander vermischt, daß er es unmög-
lich sondern konnte. Nach langem Streite mit sich
selbst glaubte er endlich, ein Traum oder ein plötz-
licher Wahnsinn habe ihn in dieser Nacht befallen,
nur begriff er immer nicht, wie er sich so weit in
eine fremde entlegene Gegend habe verirren können.

Noch fast schlaftrunken stieg er den Hügel hin-
ab, und gerieth auf einen gebahnten Weg, der ihn
vom Gebirge hinunter in das flache Land führte.
Alles war ihm fremd, er glaubte anfangs, er würde
in seine Heimath gelangen, aber er sah eine ganz
verschiedene Gegend, und vermuthete endlich, daß

Der Runenberg.
die koſtbare Tafel, in welcher ſich der unterſinkende
Mond ſchwach und blaͤulich ſpiegelte.

Noch hielt er die Tafel feſt in ſeine Haͤnde
gepreßt, als der Morgen graute und er erſchoͤpft,
ſchwindelnd und halb ſchlafend die ſteile Hoͤhe hin-
unter ſtuͤrzte. —

Die Sonne ſchien dem betaͤubten Schlaͤfer
auf ſein Geſicht, der ſich erwachend auf einem
anmuthigen Huͤgel wieder fand. Er ſah umher,
und erblickte weit hinter ſich und kaum noch kenn-
bar am aͤußerſten Horizont die Truͤmmer des Ru-
nenberges: er ſuchte nach jener Tafel, und fand
ſie nirgend. Erſtaunt und verwirrt wollte er ſich
ſammeln und ſeine Erinnerungen anknuͤpfen, aber
ſein Gedaͤchtniß war wie mit einem wuͤſten Nebel
angefuͤllt, in welchem ſich formloſe Geſtalten wild
und unkenntlich durch einander bewegten. Sein gan-
zes voriges Leben lag wie in einer tiefen Ferne
hinter ihm; das Seltſamſte und das Gewoͤhnliche
war ſo in einander vermiſcht, daß er es unmoͤg-
lich ſondern konnte. Nach langem Streite mit ſich
ſelbſt glaubte er endlich, ein Traum oder ein ploͤtz-
licher Wahnſinn habe ihn in dieſer Nacht befallen,
nur begriff er immer nicht, wie er ſich ſo weit in
eine fremde entlegene Gegend habe verirren koͤnnen.

Noch faſt ſchlaftrunken ſtieg er den Huͤgel hin-
ab, und gerieth auf einen gebahnten Weg, der ihn
vom Gebirge hinunter in das flache Land fuͤhrte.
Alles war ihm fremd, er glaubte anfangs, er wuͤrde
in ſeine Heimath gelangen, aber er ſah eine ganz
verſchiedene Gegend, und vermuthete endlich, daß

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[251/0262] Der Runenberg. die koſtbare Tafel, in welcher ſich der unterſinkende Mond ſchwach und blaͤulich ſpiegelte. Noch hielt er die Tafel feſt in ſeine Haͤnde gepreßt, als der Morgen graute und er erſchoͤpft, ſchwindelnd und halb ſchlafend die ſteile Hoͤhe hin- unter ſtuͤrzte. — Die Sonne ſchien dem betaͤubten Schlaͤfer auf ſein Geſicht, der ſich erwachend auf einem anmuthigen Huͤgel wieder fand. Er ſah umher, und erblickte weit hinter ſich und kaum noch kenn- bar am aͤußerſten Horizont die Truͤmmer des Ru- nenberges: er ſuchte nach jener Tafel, und fand ſie nirgend. Erſtaunt und verwirrt wollte er ſich ſammeln und ſeine Erinnerungen anknuͤpfen, aber ſein Gedaͤchtniß war wie mit einem wuͤſten Nebel angefuͤllt, in welchem ſich formloſe Geſtalten wild und unkenntlich durch einander bewegten. Sein gan- zes voriges Leben lag wie in einer tiefen Ferne hinter ihm; das Seltſamſte und das Gewoͤhnliche war ſo in einander vermiſcht, daß er es unmoͤg- lich ſondern konnte. Nach langem Streite mit ſich ſelbſt glaubte er endlich, ein Traum oder ein ploͤtz- licher Wahnſinn habe ihn in dieſer Nacht befallen, nur begriff er immer nicht, wie er ſich ſo weit in eine fremde entlegene Gegend habe verirren koͤnnen. Noch faſt ſchlaftrunken ſtieg er den Huͤgel hin- ab, und gerieth auf einen gebahnten Weg, der ihn vom Gebirge hinunter in das flache Land fuͤhrte. Alles war ihm fremd, er glaubte anfangs, er wuͤrde in ſeine Heimath gelangen, aber er ſah eine ganz verſchiedene Gegend, und vermuthete endlich, daß

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/262>, abgerufen am 22.11.2024.