Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
ihn irre Vorstellungen und unverständliche Wün-
sche. Jetzt zog ihn der gefährliche Weg neben
eine hohe Mauer hin, die sich in den Wolken zu
verlieren schien; der Steig ward mit jedem Schritte
schmaler, und der Jüngling mußte sich an vorra-
genden Steinen fest halten, um nicht hinunter zu
stürzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad
endigte unter einem Fenster, er mußte still stehen
und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei-
ben solle. Plötzlich sah er ein Licht, das sich hin-
ter dem alten Gemäuer zu bewegen schien. Er
sah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in
einen alten geräumigen Saal blicken konnte, der
wunderlich verziert von mancherley Gesteinen und
Krystallen in vielfältigen Schimmern funkelte, die
sich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch-
einander bewegten, welches eine große weibliche
Gestalt trug, die sinnend im Gemache auf und nie-
der ging. Sie schien nicht den Sterblichen anzu-
gehören, so groß, so mächtig waren ihre Glieder,
so streng ihr Gesicht, aber doch dünkte dem ent-
zückten Jünglinge, daß er noch niemals solche
Schönheit gesehn oder geahndet habe. Er zitterte
und wünschte doch heimlich, daß sie zum Fenster
treten und ihn wahrnehmen möchte. Endlich stand
sie still, setzte das Licht auf einen krystallenen Tisch
nieder, schaute in die Höhe und sang mit durch-
dringlicher Stimme:

Wo die Alten weilen,
Daß sie nicht erscheinen?
Die Krystallen weinen,

Erſte Abtheilung.
ihn irre Vorſtellungen und unverſtaͤndliche Wuͤn-
ſche. Jetzt zog ihn der gefaͤhrliche Weg neben
eine hohe Mauer hin, die ſich in den Wolken zu
verlieren ſchien; der Steig ward mit jedem Schritte
ſchmaler, und der Juͤngling mußte ſich an vorra-
genden Steinen feſt halten, um nicht hinunter zu
ſtuͤrzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad
endigte unter einem Fenſter, er mußte ſtill ſtehen
und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei-
ben ſolle. Ploͤtzlich ſah er ein Licht, das ſich hin-
ter dem alten Gemaͤuer zu bewegen ſchien. Er
ſah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in
einen alten geraͤumigen Saal blicken konnte, der
wunderlich verziert von mancherley Geſteinen und
Kryſtallen in vielfaͤltigen Schimmern funkelte, die
ſich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch-
einander bewegten, welches eine große weibliche
Geſtalt trug, die ſinnend im Gemache auf und nie-
der ging. Sie ſchien nicht den Sterblichen anzu-
gehoͤren, ſo groß, ſo maͤchtig waren ihre Glieder,
ſo ſtreng ihr Geſicht, aber doch duͤnkte dem ent-
zuͤckten Juͤnglinge, daß er noch niemals ſolche
Schoͤnheit geſehn oder geahndet habe. Er zitterte
und wuͤnſchte doch heimlich, daß ſie zum Fenſter
treten und ihn wahrnehmen moͤchte. Endlich ſtand
ſie ſtill, ſetzte das Licht auf einen kryſtallenen Tiſch
nieder, ſchaute in die Hoͤhe und ſang mit durch-
dringlicher Stimme:

Wo die Alten weilen,
Daß ſie nicht erſcheinen?
Die Kryſtallen weinen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0259" n="248"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
ihn irre Vor&#x017F;tellungen und unver&#x017F;ta&#x0364;ndliche Wu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;che. Jetzt zog ihn der gefa&#x0364;hrliche Weg neben<lb/>
eine hohe Mauer hin, die &#x017F;ich in den Wolken zu<lb/>
verlieren &#x017F;chien; der Steig ward mit jedem Schritte<lb/>
&#x017F;chmaler, und der Ju&#x0364;ngling mußte &#x017F;ich an vorra-<lb/>
genden Steinen fe&#x017F;t halten, um nicht hinunter zu<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;rzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad<lb/>
endigte unter einem Fen&#x017F;ter, er mußte &#x017F;till &#x017F;tehen<lb/>
und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei-<lb/>
ben &#x017F;olle. Plo&#x0364;tzlich &#x017F;ah er ein Licht, das &#x017F;ich hin-<lb/>
ter dem alten Gema&#x0364;uer zu bewegen &#x017F;chien. Er<lb/>
&#x017F;ah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in<lb/>
einen alten gera&#x0364;umigen Saal blicken konnte, der<lb/>
wunderlich verziert von mancherley Ge&#x017F;teinen und<lb/>
Kry&#x017F;tallen in vielfa&#x0364;ltigen Schimmern funkelte, die<lb/>
&#x017F;ich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch-<lb/>
einander bewegten, welches eine große weibliche<lb/>
Ge&#x017F;talt trug, die &#x017F;innend im Gemache auf und nie-<lb/>
der ging. Sie &#x017F;chien nicht den Sterblichen anzu-<lb/>
geho&#x0364;ren, &#x017F;o groß, &#x017F;o ma&#x0364;chtig waren ihre Glieder,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;treng ihr Ge&#x017F;icht, aber doch du&#x0364;nkte dem ent-<lb/>
zu&#x0364;ckten Ju&#x0364;nglinge, daß er noch niemals &#x017F;olche<lb/>
Scho&#x0364;nheit ge&#x017F;ehn oder geahndet habe. Er zitterte<lb/>
und wu&#x0364;n&#x017F;chte doch heimlich, daß &#x017F;ie zum Fen&#x017F;ter<lb/>
treten und ihn wahrnehmen mo&#x0364;chte. Endlich &#x017F;tand<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;till, &#x017F;etzte das Licht auf einen kry&#x017F;tallenen Ti&#x017F;ch<lb/>
nieder, &#x017F;chaute in die Ho&#x0364;he und &#x017F;ang mit durch-<lb/>
dringlicher Stimme:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Wo die Alten weilen,</l><lb/>
            <l>Daß &#x017F;ie nicht er&#x017F;cheinen?</l><lb/>
            <l>Die Kry&#x017F;tallen weinen,</l><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0259] Erſte Abtheilung. ihn irre Vorſtellungen und unverſtaͤndliche Wuͤn- ſche. Jetzt zog ihn der gefaͤhrliche Weg neben eine hohe Mauer hin, die ſich in den Wolken zu verlieren ſchien; der Steig ward mit jedem Schritte ſchmaler, und der Juͤngling mußte ſich an vorra- genden Steinen feſt halten, um nicht hinunter zu ſtuͤrzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad endigte unter einem Fenſter, er mußte ſtill ſtehen und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei- ben ſolle. Ploͤtzlich ſah er ein Licht, das ſich hin- ter dem alten Gemaͤuer zu bewegen ſchien. Er ſah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in einen alten geraͤumigen Saal blicken konnte, der wunderlich verziert von mancherley Geſteinen und Kryſtallen in vielfaͤltigen Schimmern funkelte, die ſich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch- einander bewegten, welches eine große weibliche Geſtalt trug, die ſinnend im Gemache auf und nie- der ging. Sie ſchien nicht den Sterblichen anzu- gehoͤren, ſo groß, ſo maͤchtig waren ihre Glieder, ſo ſtreng ihr Geſicht, aber doch duͤnkte dem ent- zuͤckten Juͤnglinge, daß er noch niemals ſolche Schoͤnheit geſehn oder geahndet habe. Er zitterte und wuͤnſchte doch heimlich, daß ſie zum Fenſter treten und ihn wahrnehmen moͤchte. Endlich ſtand ſie ſtill, ſetzte das Licht auf einen kryſtallenen Tiſch nieder, ſchaute in die Hoͤhe und ſang mit durch- dringlicher Stimme: Wo die Alten weilen, Daß ſie nicht erſcheinen? Die Kryſtallen weinen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/259
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/259>, abgerufen am 25.11.2024.