hielt ich es für wilde Thiere, bald für den Wind, der durch die Felsen klage, bald für fremde Vögel. Ich betete, und schlief nur spät gegen Morgen ein.
Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war ein steiler Felsen, ich klet- terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus- gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht Wohnungen oder Menschen gewahr zu werden. Als ich aber oben stand, war alles, so weit nur mein Auge reichte, eben so, wie um mich her, alles war mit einem neblichten Dufte überzogen, der Tag war grau und trübe, und keinen Baum, keine Wiese, selbst kein Gebüsch konnte mein Auge ent- decken, einzelne Sträucher ausgenommen, die ein- sam und betrübt in engen Felsenritzen empor geschos- sen waren. Es ist unbeschreiblich, welche Sehn- sucht ich empfand, nur eines Menschen ansichtig zu werden, wäre es auch, daß ich mich vor ihm hätte fürchten müssen. Zugleich empfand ich einen peinigenden Hunger, ich setzte mich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeit trug die Lust zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffte mich auf und ging unter Thränen, unter abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch; am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt, ich war müde und erschöpft, ich wünschte kaum noch zu leben, und fürchtete doch den Tod.
Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf, die Lust zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt
Der blonde Eckbert.
hielt ich es fuͤr wilde Thiere, bald fuͤr den Wind, der durch die Felſen klage, bald fuͤr fremde Voͤgel. Ich betete, und ſchlief nur ſpaͤt gegen Morgen ein.
Ich erwachte, als mir der Tag ins Geſicht ſchien. Vor mir war ein ſteiler Felſen, ich klet- terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus- gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht Wohnungen oder Menſchen gewahr zu werden. Als ich aber oben ſtand, war alles, ſo weit nur mein Auge reichte, eben ſo, wie um mich her, alles war mit einem neblichten Dufte uͤberzogen, der Tag war grau und truͤbe, und keinen Baum, keine Wieſe, ſelbſt kein Gebuͤſch konnte mein Auge ent- decken, einzelne Straͤucher ausgenommen, die ein- ſam und betruͤbt in engen Felſenritzen empor geſchoſ- ſen waren. Es iſt unbeſchreiblich, welche Sehn- ſucht ich empfand, nur eines Menſchen anſichtig zu werden, waͤre es auch, daß ich mich vor ihm haͤtte fuͤrchten muͤſſen. Zugleich empfand ich einen peinigenden Hunger, ich ſetzte mich nieder und beſchloß zu ſterben. Aber nach einiger Zeit trug die Luſt zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffte mich auf und ging unter Thraͤnen, unter abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch; am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt, ich war muͤde und erſchoͤpft, ich wuͤnſchte kaum noch zu leben, und fuͤrchtete doch den Tod.
Gegen Abend ſchien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine Wuͤnſche lebten wieder auf, die Luſt zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0182"n="171"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Der blonde Eckbert</hi>.</fw><lb/>
hielt ich es fuͤr wilde Thiere, bald fuͤr den Wind,<lb/>
der durch die Felſen klage, bald fuͤr fremde Voͤgel.<lb/>
Ich betete, und ſchlief nur ſpaͤt gegen Morgen ein.</p><lb/><p>Ich erwachte, als mir der Tag ins Geſicht<lb/>ſchien. Vor mir war ein ſteiler Felſen, ich klet-<lb/>
terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus-<lb/>
gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht<lb/>
Wohnungen oder Menſchen gewahr zu werden.<lb/>
Als ich aber oben ſtand, war alles, ſo weit nur<lb/>
mein Auge reichte, eben ſo, wie um mich her, alles<lb/>
war mit einem neblichten Dufte uͤberzogen, der<lb/>
Tag war grau und truͤbe, und keinen Baum, keine<lb/>
Wieſe, ſelbſt kein Gebuͤſch konnte mein Auge ent-<lb/>
decken, einzelne Straͤucher ausgenommen, die ein-<lb/>ſam und betruͤbt in engen Felſenritzen empor geſchoſ-<lb/>ſen waren. Es iſt unbeſchreiblich, welche Sehn-<lb/>ſucht ich empfand, nur eines Menſchen anſichtig<lb/>
zu werden, waͤre es auch, daß ich mich vor ihm<lb/>
haͤtte fuͤrchten muͤſſen. Zugleich empfand ich einen<lb/>
peinigenden Hunger, ich ſetzte mich nieder und<lb/>
beſchloß zu ſterben. Aber nach einiger Zeit trug<lb/>
die Luſt zu leben dennoch den Sieg davon, ich<lb/>
raffte mich auf und ging unter Thraͤnen, unter<lb/>
abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch;<lb/>
am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt,<lb/>
ich war muͤde und erſchoͤpft, ich wuͤnſchte kaum<lb/>
noch zu leben, und fuͤrchtete doch den Tod.</p><lb/><p>Gegen Abend ſchien die Gegend umher etwas<lb/>
freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine<lb/>
Wuͤnſche lebten wieder auf, die Luſt zum Leben<lb/>
erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[171/0182]
Der blonde Eckbert.
hielt ich es fuͤr wilde Thiere, bald fuͤr den Wind,
der durch die Felſen klage, bald fuͤr fremde Voͤgel.
Ich betete, und ſchlief nur ſpaͤt gegen Morgen ein.
Ich erwachte, als mir der Tag ins Geſicht
ſchien. Vor mir war ein ſteiler Felſen, ich klet-
terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus-
gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht
Wohnungen oder Menſchen gewahr zu werden.
Als ich aber oben ſtand, war alles, ſo weit nur
mein Auge reichte, eben ſo, wie um mich her, alles
war mit einem neblichten Dufte uͤberzogen, der
Tag war grau und truͤbe, und keinen Baum, keine
Wieſe, ſelbſt kein Gebuͤſch konnte mein Auge ent-
decken, einzelne Straͤucher ausgenommen, die ein-
ſam und betruͤbt in engen Felſenritzen empor geſchoſ-
ſen waren. Es iſt unbeſchreiblich, welche Sehn-
ſucht ich empfand, nur eines Menſchen anſichtig
zu werden, waͤre es auch, daß ich mich vor ihm
haͤtte fuͤrchten muͤſſen. Zugleich empfand ich einen
peinigenden Hunger, ich ſetzte mich nieder und
beſchloß zu ſterben. Aber nach einiger Zeit trug
die Luſt zu leben dennoch den Sieg davon, ich
raffte mich auf und ging unter Thraͤnen, unter
abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch;
am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt,
ich war muͤde und erſchoͤpft, ich wuͤnſchte kaum
noch zu leben, und fuͤrchtete doch den Tod.
Gegen Abend ſchien die Gegend umher etwas
freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine
Wuͤnſche lebten wieder auf, die Luſt zum Leben
erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/182>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.