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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Mährchen von Novalis, so weit ich es verstehn
konnte, diesem weit vorgezogen, welches auch alle
Erinnerungen anregt, aber uns zugleich rührt
und begeistert und den lieblichsten Wohllaut in
der Seele noch lange nachtönen läßt.

Du hast hiemit zugleich, sagte Manfred, die
große Mährchenwelt des Ariost getadelt, den es
auch an einem Mittelpunkte und wahrem Zu-
sammenhange gebricht. Die Frage ist nur, ob
ein Gedicht schon vollendet ist, dessen einzelne
Theile es sind, und in wie fern die Seele dann
bei einer so vielseitigen Composition jene Fode-
rung eines innigeren Zusammenhanges vergessen
kann.

Diese Frage, fiel Ernst ein, kann gar nicht
Statt finden, denn diese Theile sind ja nur
durch das organische Ganze Theile zu nennen,
können aber ohne dieses im strengeren Sinne
nur Fragmente von und zu Gedichten heißen
und als solche geliebt werden. Bei aller dieser
scheinbaren Vortrefflichkeit fehlt die beherrschende,
ordnende Seele, die der flüchtigen Schönheit
den ewigen Reiz geben muß. Der Dichter will

Es soll sich sein Gedicht zum Ganzen ründen,
Er will nicht Mährchen über Mährchen häufen,
Die reizend unterhalten und zuletzt
Wie lose Worte nur verklingend täuschen.

Ich kenne dich und Friedrich schon, sagte
Manfred, als Rigoristen und Ketzermacher, aber
ich und Theodor werden euch zu gefallen den

Erſte Abtheilung.
Maͤhrchen von Novalis, ſo weit ich es verſtehn
konnte, dieſem weit vorgezogen, welches auch alle
Erinnerungen anregt, aber uns zugleich ruͤhrt
und begeiſtert und den lieblichſten Wohllaut in
der Seele noch lange nachtoͤnen laͤßt.

Du haſt hiemit zugleich, ſagte Manfred, die
große Maͤhrchenwelt des Arioſt getadelt, den es
auch an einem Mittelpunkte und wahrem Zu-
ſammenhange gebricht. Die Frage iſt nur, ob
ein Gedicht ſchon vollendet iſt, deſſen einzelne
Theile es ſind, und in wie fern die Seele dann
bei einer ſo vielſeitigen Compoſition jene Fode-
rung eines innigeren Zuſammenhanges vergeſſen
kann.

Dieſe Frage, fiel Ernſt ein, kann gar nicht
Statt finden, denn dieſe Theile ſind ja nur
durch das organiſche Ganze Theile zu nennen,
koͤnnen aber ohne dieſes im ſtrengeren Sinne
nur Fragmente von und zu Gedichten heißen
und als ſolche geliebt werden. Bei aller dieſer
ſcheinbaren Vortrefflichkeit fehlt die beherrſchende,
ordnende Seele, die der fluͤchtigen Schoͤnheit
den ewigen Reiz geben muß. Der Dichter will

Es ſoll ſich ſein Gedicht zum Ganzen ruͤnden,
Er will nicht Maͤhrchen uͤber Maͤhrchen haͤufen,
Die reizend unterhalten und zuletzt
Wie loſe Worte nur verklingend taͤuſchen.

Ich kenne dich und Friedrich ſchon, ſagte
Manfred, als Rigoriſten und Ketzermacher, aber
ich und Theodor werden euch zu gefallen den

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[139/0150] Erſte Abtheilung. Maͤhrchen von Novalis, ſo weit ich es verſtehn konnte, dieſem weit vorgezogen, welches auch alle Erinnerungen anregt, aber uns zugleich ruͤhrt und begeiſtert und den lieblichſten Wohllaut in der Seele noch lange nachtoͤnen laͤßt. Du haſt hiemit zugleich, ſagte Manfred, die große Maͤhrchenwelt des Arioſt getadelt, den es auch an einem Mittelpunkte und wahrem Zu- ſammenhange gebricht. Die Frage iſt nur, ob ein Gedicht ſchon vollendet iſt, deſſen einzelne Theile es ſind, und in wie fern die Seele dann bei einer ſo vielſeitigen Compoſition jene Fode- rung eines innigeren Zuſammenhanges vergeſſen kann. Dieſe Frage, fiel Ernſt ein, kann gar nicht Statt finden, denn dieſe Theile ſind ja nur durch das organiſche Ganze Theile zu nennen, koͤnnen aber ohne dieſes im ſtrengeren Sinne nur Fragmente von und zu Gedichten heißen und als ſolche geliebt werden. Bei aller dieſer ſcheinbaren Vortrefflichkeit fehlt die beherrſchende, ordnende Seele, die der fluͤchtigen Schoͤnheit den ewigen Reiz geben muß. Der Dichter will Es ſoll ſich ſein Gedicht zum Ganzen ruͤnden, Er will nicht Maͤhrchen uͤber Maͤhrchen haͤufen, Die reizend unterhalten und zuletzt Wie loſe Worte nur verklingend taͤuſchen. Ich kenne dich und Friedrich ſchon, ſagte Manfred, als Rigoriſten und Ketzermacher, aber ich und Theodor werden euch zu gefallen den

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/150>, abgerufen am 24.11.2024.