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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
rischen Natur im Menschen und ihrer Verir-
rung, denn nur als solche gegeben, spricht sie
niemals unserm edleren Wesen Hohn: sondern
dann soll sich unser Unwille erheben und ohne
alle Duldung aus uns sprechen, wenn ein So-
phist uns sagen will, und in jeder Dichtung be-
weisen, daß gegen die Sinnenlust keine Tugend,
Andacht oder Seelenerhebung bestehn könne. Ein
solcher durchaus zu verwerfender ist der jüngere
Crebillon, und nicht ist jener Deutsche, der ihn
so vielfältig nachgeahmt und die edlere Natur
des Menschen verkannt hat, von dem Vorwurf
einer verdorbenen Phantasie und eines zu nüch-
ternen Herzens frei zu sprechen: für schwache
Wesen, (aber auch nur für solche) können diese
beiden Schriftsteller allerdings gefährlich werden,
so sehr sich auch der letzte gegen diese Beschul-
digung zu verwahren gesucht hat, denn nicht
darin besteht das Verderbliche, daß man das
Thier im Menschen als Thier darstellt, sondern
darin, daß man diese doppelte Natur gänzlich
läugnet, und mit moralischer Gleißnerei und so-
phistischer Kunst das Edelste im Menschen zum
Wahn macht, und Thierheit und Menschheit für
gleichbedeutend ausgiebt.

Seine Bücher, sagte Emilie, haben mich
immer zurück geschreckt, und ich habe früher
meinen Töchtern lieber manche andre erlaubt, die
nicht in so gutem Rufe stehn, denn gerade ihre
weichliche Zierlichkeit habe ich für schädlich ge-
halten. Ich hoffe, jetzt können sie auch diese

I. [ 8 ]

Einleitung.
riſchen Natur im Menſchen und ihrer Verir-
rung, denn nur als ſolche gegeben, ſpricht ſie
niemals unſerm edleren Weſen Hohn: ſondern
dann ſoll ſich unſer Unwille erheben und ohne
alle Duldung aus uns ſprechen, wenn ein So-
phiſt uns ſagen will, und in jeder Dichtung be-
weiſen, daß gegen die Sinnenluſt keine Tugend,
Andacht oder Seelenerhebung beſtehn koͤnne. Ein
ſolcher durchaus zu verwerfender iſt der juͤngere
Crebillon, und nicht iſt jener Deutſche, der ihn
ſo vielfaͤltig nachgeahmt und die edlere Natur
des Menſchen verkannt hat, von dem Vorwurf
einer verdorbenen Phantaſie und eines zu nuͤch-
ternen Herzens frei zu ſprechen: fuͤr ſchwache
Weſen, (aber auch nur fuͤr ſolche) koͤnnen dieſe
beiden Schriftſteller allerdings gefaͤhrlich werden,
ſo ſehr ſich auch der letzte gegen dieſe Beſchul-
digung zu verwahren geſucht hat, denn nicht
darin beſteht das Verderbliche, daß man das
Thier im Menſchen als Thier darſtellt, ſondern
darin, daß man dieſe doppelte Natur gaͤnzlich
laͤugnet, und mit moraliſcher Gleißnerei und ſo-
phiſtiſcher Kunſt das Edelſte im Menſchen zum
Wahn macht, und Thierheit und Menſchheit fuͤr
gleichbedeutend ausgiebt.

Seine Buͤcher, ſagte Emilie, haben mich
immer zuruͤck geſchreckt, und ich habe fruͤher
meinen Toͤchtern lieber manche andre erlaubt, die
nicht in ſo gutem Rufe ſtehn, denn gerade ihre
weichliche Zierlichkeit habe ich fuͤr ſchaͤdlich ge-
halten. Ich hoffe, jetzt koͤnnen ſie auch dieſe

I. [ 8 ]
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[129/0140] Einleitung. riſchen Natur im Menſchen und ihrer Verir- rung, denn nur als ſolche gegeben, ſpricht ſie niemals unſerm edleren Weſen Hohn: ſondern dann ſoll ſich unſer Unwille erheben und ohne alle Duldung aus uns ſprechen, wenn ein So- phiſt uns ſagen will, und in jeder Dichtung be- weiſen, daß gegen die Sinnenluſt keine Tugend, Andacht oder Seelenerhebung beſtehn koͤnne. Ein ſolcher durchaus zu verwerfender iſt der juͤngere Crebillon, und nicht iſt jener Deutſche, der ihn ſo vielfaͤltig nachgeahmt und die edlere Natur des Menſchen verkannt hat, von dem Vorwurf einer verdorbenen Phantaſie und eines zu nuͤch- ternen Herzens frei zu ſprechen: fuͤr ſchwache Weſen, (aber auch nur fuͤr ſolche) koͤnnen dieſe beiden Schriftſteller allerdings gefaͤhrlich werden, ſo ſehr ſich auch der letzte gegen dieſe Beſchul- digung zu verwahren geſucht hat, denn nicht darin beſteht das Verderbliche, daß man das Thier im Menſchen als Thier darſtellt, ſondern darin, daß man dieſe doppelte Natur gaͤnzlich laͤugnet, und mit moraliſcher Gleißnerei und ſo- phiſtiſcher Kunſt das Edelſte im Menſchen zum Wahn macht, und Thierheit und Menſchheit fuͤr gleichbedeutend ausgiebt. Seine Buͤcher, ſagte Emilie, haben mich immer zuruͤck geſchreckt, und ich habe fruͤher meinen Toͤchtern lieber manche andre erlaubt, die nicht in ſo gutem Rufe ſtehn, denn gerade ihre weichliche Zierlichkeit habe ich fuͤr ſchaͤdlich ge- halten. Ich hoffe, jetzt koͤnnen ſie auch dieſe I. [ 8 ]

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/140>, abgerufen am 25.11.2024.