der Grazien und Musen, so wie die liebenswür- digen Weiber von diesen Orgien völlig ausge- schlossen sind, so sind sie nun in ihrer Einsam- keit um so niedriger und verächtlicher geworden, am schlimmsten, wenn sie das Gewand der Mo- ral umlegen, und wehe dem Zarteren, der das Unglück hat einem Ottern- und Krötenschmause beiwohnen zu müssen, den sich eine solche tu- gendhafte Gesellschaft giebt, die darauf ausgeht, recht vollständig ihren Haß gegen die Untugend an den Tag zu legen.
Als in Spanien, sagte Lothar, ein etwas zu strenger Geist in der Poesie zu herrschen anfing, und Cervantes die frühere Celestina als zu frei tadelte, als man in Frankreich und Italien die schamlosesten Werke las und schrieb, und in Deutschland sich kaum noch Spuren von Witz oder Unwitz antreffen ließen, erhob der edle Shak- spear, das, was so viele hatten verächtlich machen wollen, wieder zum Scherz, geistreichen Witz und zur Menschenwürde, und dichtete seine schalk- haften Rosalinden und Beatricen, die freilich unser jetziges verwöhntes Zeitalter ebenfalls an- stößig findet.
Was ist es denn, was uns wahrhaft anstößig, ja als Menschen unerträglich sein soll? rief Fried- rich, der wieder zur Gesellschaft getreten war, im edlen Unwillen aus. Nicht der freieste Scherz, noch der kühnste Witz, denn sie spielen nur in Unschuld; nicht die kräftige Zeichnung der thie-
rischen
Einleitung.
der Grazien und Muſen, ſo wie die liebenswuͤr- digen Weiber von dieſen Orgien voͤllig ausge- ſchloſſen ſind, ſo ſind ſie nun in ihrer Einſam- keit um ſo niedriger und veraͤchtlicher geworden, am ſchlimmſten, wenn ſie das Gewand der Mo- ral umlegen, und wehe dem Zarteren, der das Ungluͤck hat einem Ottern- und Kroͤtenſchmauſe beiwohnen zu muͤſſen, den ſich eine ſolche tu- gendhafte Geſellſchaft giebt, die darauf ausgeht, recht vollſtaͤndig ihren Haß gegen die Untugend an den Tag zu legen.
Als in Spanien, ſagte Lothar, ein etwas zu ſtrenger Geiſt in der Poeſie zu herrſchen anfing, und Cervantes die fruͤhere Celeſtina als zu frei tadelte, als man in Frankreich und Italien die ſchamloſeſten Werke las und ſchrieb, und in Deutſchland ſich kaum noch Spuren von Witz oder Unwitz antreffen ließen, erhob der edle Shak- ſpear, das, was ſo viele hatten veraͤchtlich machen wollen, wieder zum Scherz, geiſtreichen Witz und zur Menſchenwuͤrde, und dichtete ſeine ſchalk- haften Roſalinden und Beatricen, die freilich unſer jetziges verwoͤhntes Zeitalter ebenfalls an- ſtoͤßig findet.
Was iſt es denn, was uns wahrhaft anſtoͤßig, ja als Menſchen unertraͤglich ſein ſoll? rief Fried- rich, der wieder zur Geſellſchaft getreten war, im edlen Unwillen aus. Nicht der freieſte Scherz, noch der kuͤhnſte Witz, denn ſie ſpielen nur in Unſchuld; nicht die kraͤftige Zeichnung der thie-
riſchen
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Einleitung.
der Grazien und Muſen, ſo wie die liebenswuͤr-
digen Weiber von dieſen Orgien voͤllig ausge-
ſchloſſen ſind, ſo ſind ſie nun in ihrer Einſam-
keit um ſo niedriger und veraͤchtlicher geworden,
am ſchlimmſten, wenn ſie das Gewand der Mo-
ral umlegen, und wehe dem Zarteren, der das
Ungluͤck hat einem Ottern- und Kroͤtenſchmauſe
beiwohnen zu muͤſſen, den ſich eine ſolche tu-
gendhafte Geſellſchaft giebt, die darauf ausgeht,
recht vollſtaͤndig ihren Haß gegen die Untugend
an den Tag zu legen.
Als in Spanien, ſagte Lothar, ein etwas
zu ſtrenger Geiſt in der Poeſie zu herrſchen anfing,
und Cervantes die fruͤhere Celeſtina als zu frei
tadelte, als man in Frankreich und Italien die
ſchamloſeſten Werke las und ſchrieb, und in
Deutſchland ſich kaum noch Spuren von Witz
oder Unwitz antreffen ließen, erhob der edle Shak-
ſpear, das, was ſo viele hatten veraͤchtlich machen
wollen, wieder zum Scherz, geiſtreichen Witz und
zur Menſchenwuͤrde, und dichtete ſeine ſchalk-
haften Roſalinden und Beatricen, die freilich
unſer jetziges verwoͤhntes Zeitalter ebenfalls an-
ſtoͤßig findet.
Was iſt es denn, was uns wahrhaft anſtoͤßig,
ja als Menſchen unertraͤglich ſein ſoll? rief Fried-
rich, der wieder zur Geſellſchaft getreten war,
im edlen Unwillen aus. Nicht der freieſte Scherz,
noch der kuͤhnſte Witz, denn ſie ſpielen nur in
Unſchuld; nicht die kraͤftige Zeichnung der thie-
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/139>, abgerufen am 24.11.2024.
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